Alle auf Anfang - Roman
schon fast wieder alt. Gewohnt jedenfalls. Sieben Uhr fünfzig. Er steht auf, geht nach oben, schließt das Fenster im Zimmer der Kleinen. Geht ins Bad und putzt sich die Zähne. Betrachtet sich im Spiegel. Versucht zu lächeln, doch es gelingt ihm nicht. Man sieht ihm nichts an. Pfeifend geht er wieder nach unten, zieht die Schuhe an, die Jacke, gibt seiner Frau einen Kuss. Pünktlich verlässt Urs das Haus.
Der Mann vom Pflegedienst kommt ihm entgegen. »Irgendwas Besonderes heute?«, fragt er.
Urs schüttelt den Kopf. »Alles wie immer.«
Er gibt sich gut gelaunt, wie immer. Er wird pünktlich nach Hause kommen. Seine Frau wird auf ihn warten. Sie kann nicht mehr fortgehen. Sie wird nie mehr allein mit dem Auto unterwegs sein.
Alles ist gut.
Mittags nach Schulschluss
Auf dem Weg liegen die ersten Kastanien. Fee bückt sich und hebt sie auf. Sie sind glatt und glänzend.
»Willst du noch mehr?«, fragt der Junge hinter ihr. Er geht in ihre Klasse. Er hebt noch mehr von den stacheligen grünen Kugeln auf, die auf die Straße heruntergefallen waren. Zusammen mit dem Jungen kriecht Fee über den Boden und puhlt die Kastanien aus den aufgeplatzten Hüllen. Es geht darum, wer schneller ist. Der Junge ist ein gieriger Sammler, aber Fee hat kleinere Finger. Sie ist geschickter. So hat sie bald mehr. Der Junge gibt auf und läuft davon.
Endlos lang ist der Heimweg, aber das macht nichts. Fee kostet jeden Meter aus. Jede Wegkreuzung wartet. Wenn du willst, versprechen ihr die Bordsteinkanten, darfst du auch hier langgehen. Irgendwann wird sie das tun. Sie weiß, dass sie das kann. Sie weiß, dass an jeder Haltestelle irgendwann ein Bus kommt. Seit dem ersten Schultag spart sie ihr Taschengeld.
»Fee, warte!«
Ihre Freundin ruft nach ihr. Sie bleibt stehen. »Hast du heute Zeit?«, fragt die Freundin keuchend. Sie ist gerannt. Fee schüttelt den Kopf.
»Und morgen?«
»Morgen auch nicht.«
Sie hat keine Lust, bei anderen Kindern zu spielen, weil sie dort nicht ihre Mutter sieht. Nachher ist sie weg, wenn sie zurückkommt.
Eine Weile laufen die beiden Mädchen stumm nebeneinander her. An der dritten Wegkreuzung biegt die Freundin ab. Fee sieht ihr hinterher. Sieht sie an einer Bushaltestelle vorbeilaufen.
Sie nimmt ihren Weg wieder auf. Sieht auf die Uhr, die sie zur Einschulung bekommen hat. Um zwölf wird sie zu Hause sein. Wird das Essen aus dem Kühlschrank nehmen und in die Mikrowelle stellen, so wie Papa es ihr beigebracht hat. Wird Mama in die Küche schieben und mit ihr essen und anschließend die Hausaufgaben machen. Später wird Mama ihr ein Märchen erzählen. Geh doch mal raus zu deinen Freundinnen, wird sie noch später sagen. Aber das tut Fee nicht. Darauf fällt sie nie wieder herein.
Ihre Wegkreuzung kommt, sie biegt ab. Von Weitem sieht sie etwas im Straßengraben liegen. Sie geht schneller. Läuft schließlich. Im Näherkommen erkennt sie die Nachbarskatze. Sie liegt da, als ob sie schläft. Fee kniet sich neben die Katze auf die Straße. Blut klebt im Fell. Sie streicht mit dem Finger über den Kopf. Die Katze rührt sich nicht. Sie ist tot.
Ist sie nicht. Sie kommt wieder. Katzen, hat Mama gesagt, haben sieben Leben.
Claudia erzählt Fee kein Märchen
Es war eimal ein arm Kind und hat kei Vater und kei Mutter, war alles tot und war niemand mehr auf der Welt.
Das wusste das Kind, denn es hat überall nachgesehen. Ist einmal um die ganze Welt gegangen und hat niemand getroffen. Das einzige Gesicht, das es unterwegs sah, war das freundliche Lachgesicht des Mondes. Komm zu mir, lockte der Mond, ich tanze mit dir auf dem Ball der Planeten, zusammen laufen wir die Milchstraße entlang und über tausend Sonnen hinweg, du musst nur wollen. Doch als es dort ankam, war der Mond eine billige Pappmaske mit Lachgesicht, von der Flut an Land gespült und vergessen.
Komm zu mir, lockte die Sonne, ich mache deinen Tag, ich bestimme alles, die Stunden und Minuten, die Jahreszeiten, bei mir bist du gut aufgehoben, musst dich um gar nichts mehr kümmern. Darum ist es zur Sonne gegangen. Doch als es dort ankam, war die Sonne eine verwelkte, widerlich stinkende Sonnenblume, die ihre Blätter verlor und es nicht einmal merkte.
Da hat es sich von den Sternen locken lassen. Wir sind dein Schicksal, haben die Sterne gesäuselt, wir leiten dich, du kannst gar nicht anders, musst uns folgen. Und wie es dort ankam, waren die Sterne aufgespießte Schmetterlinge, golden gerahmt und an die Wand gehängt, eine
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