Alle lieben Merry
Träger eines schwarzen Büstenhalters, aber nur von hinten. Dann verlor er sie aus den Augen – bis er sie zwei Zimmer weiter wieder ins Blickfeld bekam, als sie sich erneut in das staubsaugende Heinzelmännchen verwandelt hatte.
Offensichtlich hatte sie sich nicht ausgezogen, um an einem Werktag nach Mitternacht wie ein normaler Mensch ins Bett zu gehen. Sie legte nur Schicht um Schicht ab, weil ihr vom vielen Umherrennen heiß geworden war.
Und ihm war eindeutig heiß vom Zusehen geworden.
Mit einem Seufzer löste er sich von der Spüle, streckte seinen schmerzenden Rücken und grummelte vor sich hin, bis er irgendwo Schuhe und dann auch seine Jacke fand.
In den letzten dreieinhalb Jahren hatte er keine Frau mehr richtig angesehen.
Es hatte eine Zeit gegeben, als er an Ehrlichkeit, Treue, Aufrichtigkeit und all den anderen Kram geglaubt hatte. Es hatte auch eine Zeit gegeben, als er geglaubt hatte, anders als seine Generation zu sein – weil er wirklich an die Ehe, an das Gelöbnis der Ehe, geglaubt hatte und sich nie wegen gröberer Schwierigkeiten hätte scheiden lassen.
Aber das war damals.
Mittlerweile stand er dazu, ein Mann mit Bindungsangst und einer Allergie gegen Eheringe zu sein. Wenn man ihn deshalb für verantwortungslos und egoistisch hielt – nun, in diese Schublade ließ er sich gerne stecken. Er war ein ehrbarer Ehemann gewesen – und das hatte mit einem Schlag ins Gesicht für ihn geendet. Fressen oder gefressen werden war in dieser Welt die Devise. Er hatte nicht vor, jemals wieder fair zu spielen.
Missmutig stieß er die Hintertür auf. Die Kälte schlug ihm ins Gesicht. Verflucht, dieser ganze Voyeurismus würde ihm den morgigen Arbeitstag ruinieren – die ersten Anzeichen von Kopfweh wegen Schlafmangels machten sich bereits bemerkbar –, und wenn er schon im Bett wäre, wie es sich gehörte, hätten ihn die Erinnerungen nicht so einholen können.
Die meiste Zeit war er nicht im Geringsten verbittert. Er wollte Dianne nicht zurück und war längst über sie hinweg. Er hatte eine tolle Zeit mit Freundinnen und diversen Bettgenossinnen gehabt. Und sie mit ihm. Er wollte niemandem wehtun. Er hatte nur nicht die Absicht, je wieder ein Risiko einzugehen. Ehrenhaftigkeit war gut und schön, aber das sollten andere übernehmen. Und falls jemand denken sollte, er sei deshalb ein kalter, gefühlloser Klotz – nun, Pech gehabt.
Immer noch grummelig ging er über den Hof, fluchte, als die Kälte des feuchten Grases in seine Schuhe kroch, ging die Einfahrt zum Nachbarhaus hoch und machte die verdammte Eingangstür zu.
Er tat es nicht, um nett zu sein.
Gar nichts Nettes hatte er mehr übrig. Er tat es aus reinem Egoismus und weil er verflucht noch mal genau wusste, dass er sonst nicht würde schlafen können. Aus Ärger darüber, dass weiß der Teufel wer durch diese weit offen stehende Tür spazieren könnte. Und wenn er nicht wenigstens ein bisschen Schlaf bekäme, würde er morgen völlig unfähig sein zu arbeiten.
Ihren erfreulichen Po anzusehen, mochte ja ein Genuss sein, aber mit einer so zerstreuten Frau als Nachbarin zu leben, war ganz bestimmt kein Vergnügen.
Merry wurde vom Piepsen ihres Reiseweckers wach. Sie schaltete ihn aus und warf einen müden Blick aufs Zifferblatt. Sieben Uhr.
Eine entsetzliche Zeit für jemanden, der erst um halb fünf ins Bett gekommen war.
Sie quälte sich von der Couch hoch, streckte sich und zwang sich, beide Augen zu öffnen. Sie erinnerte sich dunkel daran, dass sie überlegt hatte, wo sie schlafen sollte. Aber dann hatte sie sich einfach im Wohnzimmer eine Decke über den Kopf gezogen. Alles in dem Haus war ihr in diesem Moment erdrückend vorgekommen.
Es kam ihr immer noch so vor. Sie hatte geglaubt, Charlie Ross zu kennen. Natürlich veränderten sich die Menschen im Laufe der Zeit, aber während Charlie so warmherzig, natürlich und liebenswert gewesen war, schien sein Haus wie von einem Roboter eingerichtet. Fast alle Flächen waren grau oder aus Stahl. An den Wänden hingen ungeheuer große Bilder mit Furcht einflößender zeitgenössischer Kunst, und jeder Raum war so mit ultramoderner Technik ausgestattet, dass sie nicht einmal imstande war, den Fernseher einzuschalten oder eine Uhr zu stellen.
So
, g
enug gejammert, Schätzchen.
Sie taumelte in Richtung Badezimmer. Was machten schon all die Krisen, die sie erwarteten – es war ein verdammt gutes Gefühl, gestern so viel erledigt zu haben.
Als sie zum ersten Mal das Haus betreten
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