Die irren Fahrten des Gabriel Delacruz: Roman (German Edition)
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F OTOGRAFIEN
Wir haben die gleiche Erinnerung.
Es ist frühmorgens, kurz nach Sonnenaufgang. Wir alle drei, Vater, Mutter und Sohn, gähnen vor Müdigkeit. Die Mutter hat Tee gemacht oder Kaffee mit Milch, und wir trinken ihn, weil wir ihn halt trinken. Wir sitzen im Esszimmer oder in der Küche, reglos und stumm wie Statuen. Die Augen fallen uns zu. Nach einer Weile hören wir, wie ein Lastwagen vor dem Haus hält und wie einmal auf die Hupe gehauen wird. Obwohl wir es erwartet haben, ist das Tuten so laut, dass es uns aufschreckt. Für einen Moment zittern die Fensterscheiben. Die Nachbarn wird es aus dem Schlaf gerissen haben. Wir treten auf die Straße, um uns von unserm Vater zu verabschieden, der in den Laster klettert, den Arm zum Fenster herausstreckt und sich an einem Lächeln versucht, während er uns winkt. Man merkt, dass ihm der Aufbruch schwerfällt. Nur zwei Tage ist er zu Hause gewesen, höchstens drei. Seine beiden Kollegen im Laster rufen uns etwas zu und winken ebenfalls zum Abschied. Wie in Zeitlupe setzt sich der Pegaso in Bewegung und entfernt sich langsam, als hätte auch er keine Lust darauf. Die Mutter hat einen kurzen Morgenmantel an, und vielleicht kommt ihr eine Träne, vielleicht nicht. Wir, die Söhne, tragen Pyjama und Hausschuhe und haben eisige Füße. Wir gehen wieder hinein und zurück ins Bett, das sogar noch ein bisschen warm ist, aber wir können nicht mehr schlafen, wegen der Gedanken. Der Kopf kommt nicht zur Ruhe. Zwei, drei, vier, sechs Jahre sind wir alt, und wir haben diese Szene schon öfters erlebt. Dass wir unsern Vater gerade zum letzten Mal gesehen haben, können wir nicht wissen.
Wir haben die gleiche Erinnerung.
Was wir soeben geschildert haben, begab sich vor fast dreißig Jahren, und diese Geschichte könnte an drei verschiedenen Punkten auf der Landkarte anfangen. Nein, an vier. Es könnte sein, dass sich der Umzugslaster im Frühnebel verlor, der um den Quai de la Marne im Norden von Paris waberte, und dass er eine Häuserreihe in der Rue de Crimée hinter sich ließ, am Ufer eines Kanals, der im Morgenlicht aussah, als entstammte er einem Simenon-Roman. Vielleicht durchbrach der Motor des Lasters aber auch die feuchte Stille der Martello Street, gegenüber dem Park von London Fields, als er dort, die Eisenbahnbrücke unterquerend, nach irgendeinem schnellen Weg hinaus aus der britischen Metropole suchte, dahin, wo die Straßen breit sind und der Linksverkehr für einen Lkw-Fahrer vom Kontinent kein Martyrium bedeutet. Oder wir könnten uns im Osten von Frankfurt am Main befunden haben, vor einem der Nachkriegshäuserblöcke in der Jacobystraße. Von hier aus dieselte der Pegaso unentschlossen der Autobahn entgegen, als bedrückte ihn das Panorama aus Industriegebieten und Waldstücken oder die Aussicht, sich gleich in die endlose Schlange von Lastwagen einzureihen, die durch die Arterien Westdeutschlands quoll.
Paris, London, Frankfurt. Drei zufällige Orte, weit voneinander entfernt, verbunden nur dadurch, dass unser Vater ein Fahrzeug voller Möbel von einer Ecke Europas in die andere steuerte. Es gab noch eine weitere Stadt, die vierte, das war Barcelona. Der Ausgangs- und Endpunkt. In diesem Fall spielte sich die Szene ohne Lkw und müde Kollegen ab. Einer von uns – Cristòfol – mit dem Vater und der Mutter. Drei Menschen in der schlecht beleuchteten Küche einer Wohnung im Carrer del Tigre. Doch der Abschied vollzog sich in derselben gut einstudierten Stille seinerseits und mit derselben vagen Bekümmerung, die er zuvor in anderen Häusern und mit anderen Familien an den Tag gelegt hatte. Und sein Blick dabei, der gelassen wirken wollte, aber vor Mitleid überfloss, steckte uns alle vier an: Noch Stunden später, noch am nächsten Morgen oder noch die Woche darauf, wenn wir uns beim Zähneputzen im Spiegel sahen, fanden wir diesen Blick in unsern Augen wieder. Ein Mitleid, mit dem wir einverstanden waren. Aus diesem Grund haben wir heute das Gefühl, dass jeder von uns an jedem der Orte war, und deshalb multipliziert sich jetzt, so viele Jahre später, unsere kindliche Entzauberung mit vier. Auch neigen wir dazu, unsere vier Mütter als eine einzige Person zu denken. Der Schmerz verteilt sich nicht, sondern vervielfacht sich. Niemandem ist die traurige Zeit erspart geblieben. Auch uns nicht, den vier Söhnen.
Was? Man versteht uns nicht? Zu verworren?
Wir müssen das wohl in Ruhe erklären. Wir sind vier Brüder, genauer gesagt Halbbrüder,
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