Alle lieben Merry
zu ihren Nachbarn bestand – mit ihrem Geburtstag nächsten Monat gehörte sie auch zur Generation dreißig plus.
Ihre Stimmung hellte sich auf, als sie – den Stadtplan auf dem Lenkrad ausgebreitet – auf den Highway fuhr. Genau genommen spielte es keine Rolle, ob sie in die Nachbarschaft oder zum Haus passte. Das alles zählte nicht. Hier ging es um ein kleines Mädchen.
Und sie wartete schon lange genug darauf, Charlene in die Arme zu schließen.
Es entpuppte sich als ein wenig schwierig, den Weg zum Heim zu finden. Sie warf noch einen Blick auf den Plan und bog rechts ab, als sie angehupt wurde. Natürlich war sie aufs Fahren konzentriert. Größtenteils. Aber das fürchterliche Bild von Charlenes Zimmer ging ihr immer wieder durch den Kopf.
Nichts an diesem verdammten Haus – weder innen noch außen – passte auch nur im Geringsten zu dem, was sie über Charlie Ross wusste. Aber der schrecklichste Raum – der aller-, allerschrecklichste – war Charlenes Zimmer.
Wieder wurde sie von einem Autofahrer angehupt. Sie drohte ihm mit ihrem Apfel. Meine Güte, waren die hier alle so seltsam?
Letzte Nacht hatte sie nichts anderes tun können, als frische Blumen in Charlenes Zimmer zu stellen. In diesem Haus war zwar keine Vase aufzutreiben gewesen, aber sie hatte große Gläser gefunden, und im Laden hatte es glücklicherweise Blumen gegeben.
Wenn Charlene zu Hause war, würden sie und Merry das Zimmer verschönern. Diese gemeinsame Arbeit war sogar etwas, das sie ganz besonders miteinander verbinden würde. Das arme Ding hatte keinen Bettüberwurf, keine Vorhänge, keinen Teppich. Es ergab einfach keinen Sinn. Wenn ihr Dad sich dieses scheußliche Haus leisten konnte, sollte man doch meinen, dass er ein paar schöne weiche Teppiche und ein bisschen Farbe für das Mädchenzimmer seiner Tochter hätte springen lassen. Merry dachte an Blumenbilder, vielleicht ein Himmelbett – der Raum war riesig. Sie könnten die grauenhaften dunklen Möbel hinauswerfen, stattdessen weiße besorgen und vielleicht auch einen kleinen Frisiertisch kaufen.
Charlene besaß eine tolle Stereoanlage, keine Frage, dasselbe galt für den Computer. Aber es gab heutzutage schicke Schreibtische und Schränke, in denen man das Kabeldurcheinander verstauen konnte. Etwas Elegantes, in fröhlichen Farben. Merry mochte null von Elternschaft verstehen – aber sie kannte sich mit Mädchen aus.
An der nächsten Abzweigung ließ sie den geschäftigen Verkehr hinter sich und bog schließlich in einen abgelegenen alten Stadtteil mit mächtigen schattigen Bäumen und rissigen Gehwegen ein.
Sie hielt vor einem großen alten Holzgebäude an, das man in ein Seniorenheim umfunktioniert hatte.
Charlenes einzige lebende Verwandte war ihre Urgroßmutter, die hier zusammen mit einem Dutzend über Neunzigjähriger wohnte. Es war kein Ort für ein Kind, aber alle Pflegeheime waren – wie üblich in den Weihnachtsferien – überfüllt gewesen, und der Ernährungsspezialist, der die Einrichtung leitete, hatte gemeint, für Charlene wäre ein Bett frei. Aber nur für eine sehr begrenzte Zeit. Zumindest war dies die Geschichte, die Lee Oxford Merry erzählt hatte, als er sie das erste Mal angerufen hatte.
Die Einfahrt zum Haus war ein Schotterweg, das einzige Fahrzeug weit und breit ein alter Lieferwagen. Merry ging über die Rollstuhlrampe zum Eingangsbereich hoch und versuchte, sich auf dieses erste Treffen innerlich vorzubereiten. Nicht, dass sie es nicht in den vergangenen Wochen schon getan hätte. Denn von dem Moment an, als die Entscheidung gefallen war, hierher zu kommen, hatte sie sich über alles nur Erdenkliche schlaugemacht, was Elfjährige betraf. Ihre eigenen Erinnerungen an dieses Alter waren stark, aber Moden und Trends hatten sich seither eindeutig verändert. Sie hatte Magazine wie
Bratz
und
Elle Girl
gekauft, sich Songs von Bands angehört, von denen man ihr im Plattenladen versprochen hatte, diese seien bei den Teenagern derzeit angesagt. Sogar in der Bücherei war sie gewesen, um sich mit Büchern von Judy Blume sowie ein paar Pferdegeschichten auf den aktuellen Stand der Jugendliteratur zu bringen.
Sie klopfte an die Tür, und als niemand erschien, klopfte sie erneut. Plötzlich wurde die Tür von einer entzückend aussehenden, weißhaarigen Dame mit Gehstock geöffnet. Sie trug einen Pullover mit grünen und rosa Punkten, eine lilafarbene Hose und eine riesige rote Schleife im Haar, die über ein Ohr gerutscht war. Ganz viel
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