Alle lieben Peter
Glückssträhne ein für allemal abgerissen sei. Von jetzt an gab es nur noch Abstieg, Sinken von Stufe zu Stufe, bis ich eines Tages mit Streichhölzern an einer Straßenecke handeln würde, natürlich in einer Gegend, in der alle Leute Feuerzeuge hatten. —
Heute war es anders. Warum eigentlich? O ja, die Sache mit dem Modesalon! Ich sah auf die Uhr: zehn Minuten nach acht. Aus dem Zimmer der Gefährtin war noch nichts zu hören. Sollte sie nur so lange wie möglich schlafen. Wer weiß, wie lange sie gestern noch aufgeblieben war, gegrübelt und sich vor den Unübersehbarkeiten des neuen Berufes gegrault hatte, genau wie ich es tun würde. Jeder wohl übrigens, der als reifer Mensch noch einmal neu anfangen muß.
Aber warum sollte es ihr nicht glücken? Geschmack hatte sie immer gehabt, überdurchschnittlichen. Außerdem war sie eine gute Modeschriftstellerin gewesen, ihr Name noch heute in der Fachwelt bekannt. Plötzlich wünschte ich brennend, daß es ihr gelingen möge. Nur für kurze Zeit, für ein paar Monate meinetwegen, bis das neue Buch fertig und hoffentlich angenommen war.
Ich sah mich im Zimmer um: Mein Schreibtisch, der Bücherschrank, der Biedermeiersekretär, dessen Holz in der Morgensonne honigfarben auf leuchtete: eine Insel des Friedens und der Arbeit. Ich könnte darin bleiben.
Unten hörte ich Mathildes Stimme: »Raus da, Dicker! Nicht immer mit den dreckigen Gartenpfoten durch die Zimmer latschen!«
Ich lächelte: Mathilde — nun brauchte man ihr vielleicht nicht zu kündigen. Wahrscheinlich hätte ich das tun müssen: Hören Sie, liebe Mathilde, Sie sind doch ein vernünftiger Mensch — und Sie haben ja selbst in den letzten Wochen gesehen...
Entsetzlich. Man wächst doch zusammen mit so einem Menschen. Muß man ihm so etwas antun, dann ist es, als schneide man sich ins eigene Fleisch.
Wenn’s nun aber doch nötig wäre? Ich sprang schnell auf, um dieser Vorstellung zu entrinnen, hängte mich aus dem Fenster und sah, wie jeden Morgen, zuerst nach dem Himmel. Er war jetzt schon tiefblau, aber da im Westen zog eine Wolkenwand auf, schiefergrau mit weißen Tupfen davor. Wieder mal ein Gewitter? Möglich. Niederblickend sah ich gerade unter mir den grauen Scheitel der Mama. Sie hatte sich einen Rechen geholt und harkte damit Blätter zusammen. Als ob sie meinen Blick fühlte, sah sie auf: »Wolltet ihr nicht in die Stadt fahren?«
»Ja, das wollten wir.«
»Dann wird’s ja Zeit.«
»Warum denn?«
Sie sah mich grinsen und seufzte: »Na, ich sehe schon, das wird wieder nichts.«
Die gute Mama. Sie lebte in der Überzeugung, daß wir ohne ihre dauernden Ermahnungen und düsteren Prognosen sofort und rettungslos in ein totales Lotterleben versinken würden. Diese Überzeugung hielt sie aufrecht und machte sie glücklich. Ich zog sie damit auf, und sie schimpfte darüber. Dabei wußten wir beide, daß dies nur ein Spiel war, hinter dem wir unsere tiefe Liebe und Achtung mit der Hartnäckigkeit schamhafter Seelen verbargen. Ich war und blieb für sie der kleine Junge, nur mit Teilglatze und Biermagen verkleidet, und sie hatte mir mal gestanden, es sei die glücklichste Zeit in ihrem Leben gewesen, als sie mir den Po puderte. Das war nun jetzt, nach fünfzig Jahren, nicht mehr ganz angängig, aber die Mama hatte für diese Freuden Ersatz gefunden: unsere drei Lümmels. Gerade jetzt wurde sie wieder von ihnen in Anspruch genommen. Weffi kam im Galopp mit eingekniffenem Schwanz zu ihr gerast, setzte sich vor sie hin und schlug mit der Pfote gegen die Puschelschnute, an der ein welkes Blatt hing. Er war fürchterlich penibel in diesen Sachen, im Gegensatz zu den beiden Rowdies Cocki und Peter, die, durch alle Gebüsche und Unterhölzer der Welt brechend, Zweige und Dornenranken mit sich schleppten, ohne sich im geringsten etwas daraus zu machen. Die Mama legte den Rechen zur Seite und kniete sich vor Weffi hin: »Ach, mein armes Jungchen — na, nun ist es ja weg. Und im Äugelchen haben wir auch schon wieder was! (Es wurde mit dem Taschentuch weggewischt.) Und im Po ‘ne Ameise!« Weffi warf sich auf den Rücken und lud sie ein, auch seine anderen Körperteile zu visitieren.
Wo waren denn eigentlich die beiden anderen? Ich lehnte mich weit aus dem Fenster und konnte so gerade noch die Eingangstür sehen. Da saß Peter, wie immer am Morgen, steil aufgerichtet und wartete auf den Briefträger, um ihn anzubellen. Es war seit vier Jahren derselbe Briefträger, und seit vier Jahren bellte er
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