Oliver - Peace of Mind
Träume
Zum Glück ist Wochenende. Gerade bin ich aufgewacht, weil ich mal muss.
Ich mache nur ein Auge auf, als ich zum Bad tappe. Während ich auf Toilette
sitze, versuche ich, nicht aufzuwachen. Nicht richtig jedenfalls.
Ich hatte so schön geträumt. Blöde Blase! Schnell krieche ich in mein
warmes Bett zurück und schließe die Augen. Aber es klappt nicht. Der Traum ist
zerplatzt. Wie immer!
In dem Traum lebte ich wieder im Haus meines Vaters. Ich stand am Fenster
und konnte den Hauseingang gegenüber sehen. Ich habe so oft diesen Eingang
beobachtet. Und das Fenster im 2. Stock links. Denn es war sein Fenster. Das
Fenster, in dem meine große Liebe wohnte. Sein Fenster ließ sich hochklappen. Wenn
er sich dann darunter hindurchquetschte und weit hinauslehnte, konnte er sogar
ein wenig in mein Zimmer schauen. Aber das tat er nicht oft. Ich dagegen sah,
wenn er lüftete, wenn er seine Turnschuhe zum Abdampfen hinaus stellte und wenn
er mit seinen Freunden redete, die unten vor dem Haus standen und rauchten.
Ich dagegen musste immer schon um acht Uhr abends zu Hause sein. Ich war
erst fünfzehn und mein Vater gab sich streng. So konnte ich abends nur hinter
der Gardine stehen und darauf hoffen, einen Blick auf meinen Liebsten durch die
Scheibe zu erhaschen.
Heute Nacht jedenfalls habe ich von diesem Ort geträumt.
Lange schon wohne ich nicht mehr in jener Straße. Auch wohne ich nicht
mehr bei meinem Vater. Er ist inzwischen Rentner und geht viel auf Reisen. „Man
weiß nie, wie lange man noch kann“, sind seine Worte. Ich bin heute
vierundvierzig. Deshalb muss ich auch beim Träumen auf Toilette. Das war damals
nicht so. Damals konnte ich durchschlafen. Und wenn ich dann aufwachte, dann
wurden Träume noch wahr.
Als ich an diesem Morgen aufwache, lässt mich mein Traum nicht los. Es war
kein besonderer Traum, mehr nur eine Erinnerung. Ich schlage meine Decke
zurück, suche mit den Füßen nach meinen Hausschuhen, während meine Hände nach
der Brille tasten. Eine Brille brauchte ich früher auch nicht. Ich seufze und
stehe auf. Wieder muss ich erst auf Klo, bevor ich in der Küche die Teemaschine
anwerfe. Kaffee mag ich nicht.
Als ich unter der Dusche stehe, muss ich wieder an letzte Nacht denken.
„Wie es ihm wohl ergangen ist?“, frage ich mich. Ich kann mich weder erinnern,
warum wir uns getrennt haben, noch wann. Es muss wohl fließend passiert sein.
Wie ein Flussbett, in dessen Mitte sich plötzlich ein Berg, ein Widerstand
erhebt. So haben sich unsere Wege eines Tages geteilt. Ohne es recht zu merken,
zog die Strömung ihn in die eine Richtung und mich in die andere.
So viele Jahre, bis ein Traum heute Nacht unsere Flussbetten wieder
zusammen geführt hat. Nur, wie ich schon sagte: Damals wurden meine Träume auch
wahr, heute lebe ich erwachsen.
Ich rubble mein Haar trocken, schüttle es und werde dabei auch den Traum
wieder los. Erstmal.
In der Mittagspause checke ich die Mails auf meinem iPhone: Werbung,
Werbung und Werbung und eine Mail von Matilda. Ich freue mich, denn wir haben
uns über zwanzig Jahre nicht gesehen. Seit ich mich bei diesem Facebook
angemeldet habe, ist es wie eine Reise in die Vergangenheit. Klar, um manche
Freunde aus der Vergangenheit mache ich einen Bogen. Das sind die, bei denen
ich mich auch heute noch genau erinnere, warum sie aufhörten, meine Freunde zu
sein.
Matilda gehört nicht dazu. Auch unsere Wege haben sich einst getrennt.
Sie machte Abitur und ich nicht. Ich zog weg und sie nicht. Nichts Schlimmes
eigentlich, dennoch Anlass genug, einander zu verlieren.
Mit Lexa war es ähnlich: Letztes Wochenende schon hatte mir Lexa einen
Besuch abgestattet. Spontan gab sie mir bei Facebook ihre Nummer, worauf hin
wir fast vier Stunden telefonierten. Zwei Tage später dann kam sie zu mir.
Älter und ein bisschen runder zwar, aber immer noch mit demselben Humor wie
damals.
Man hat sich ja so viel zu erzählen, wenn man sich fünfundzwanzig Jahre
nicht gesehen hat. Auch sie hatte in der Zwischenzeit Kontakt zu anderen
Bekannten aus der Jugendzeit aufgenommen, was uns weiteren Gesprächsstoff
lieferte.
Es ist schön, Freunde wieder zu finden, reifer geworden zu sein, und
heute die Spreu vom Weizen trennen zu können. Und Matilda gehörte definitiv zum
Weizen.
Schon als Kinder hatten wir auf der Straße gespielt. Von Gummitwist über
Hundehaufen sammeln bis zum Rauchen im Gebüsch hatten wir alles zusammen
durchlebt. Sie
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