'Alle meine Kinder'
der Schule werden sie ganz wohlgemut sein«, erzählte mir Selamneh. »Dann stellen sie langsam fest, dass irgendetwas schiefläuft.« Die Arbeitslosenquote in den Städten ist eine der höchsten auf der ganzen Welt. 7 An Mauern und Wänden lehnen teilnahmslos dreinblickende junge Männer, teilen sich Zigaretten und beobachten die herumalbernden Schüler, die nur wenig jünger als sie selbst sind; sie haben die Schule abgeschlossen und warten, ohne zu wissen, worauf, während sie immer mehr verwahrlosen und irgendwann einer Trägheit verfallen, aus der sie nicht mehr herauskommen.
Erwachsene Bettler klopften gegen die Autoscheiben. Stillende Mütter, die schweigend auf die Kinder in den staubigen Tüchern deuteten; ein Mann, der seine sechs Finger an jeder Hand den wartenden Autofahrern hinstreckte, bis sie ihm ein paar Münzen zuwarfen, damit er weiterging. Ein leprakranker Mann stellte seinen Arm zur Schau, der in einem verkohlt aussehenden Stumpf endete. Ein anderer drehte uns sein von Verbrennungen verunstaltetes Gesicht zu. Auf dem Bürgersteig lag ein Mann mit einem stark geschwollenen, brandigen Bein, an dem der Fuß amputiert worden war; es sah aus wie ein umgestürzter, schorfiger, roter Baumstamm. Eine Frau streckte ihr von einem Augentumor deformiertes Gesicht vor das Fenster, und ein kleiner Junge führte seinen blinden Großvater von Auto zu Auto. Es war ein wandelndes Kuriositätenkabinett, der lebende Beweis der Statistiken: 81 Prozent der Äthiopier leben von weniger als zwei Dollar am Tag, und 26 Prozent leben von weniger als einem Dollar am Tag, weltweites Kennzeichen absoluter Armut. 8
Äthiopien ist ein Binnenland (seit 1993, als nach einer Volksabstimmung Eritrea der dreiundfünfzigste souveräne Staat auf dem afrikanischen Kontinent wurde und Äthiopien der fünfzehnte von allen Seiten von Land umschlossene Staat), dessen riesige Einwohnerzahl, Dürreperioden, Nahrungsmittelknappheiten, nichtindustrielle Produktionsmittel, riesige Schuldenlasten, enorme Militärausgaben, ständige Grenzkonflikte mit Eritrea und Grundbesitz in Staatshand die Pläne der Entwicklungsexperten durchkreuzen und die Bevölkerung zu einem rückständigen Leben in Arbeitslosigkeit und Not verurteilen.
Das äthiopische Volk hat immer wieder für eine demokratische Regierung gekämpft, die sich für die Industrialisierung der Wirtschaft, ein besseres Bildungswesen und bürgerliche Gleichheit einsetzt, aber es wurde immer wieder enttäuscht.
1995 ging aus der ersten Mehrparteienwahl in Äthiopien Meles Zenawi als Regierungschef hervor und seine Ethiopian People’s Revolutionary Democratic Front (EPRDF) wurde stärkste Partei. Aber die Regierung - die erste in Äthiopiens Geschichte mit einem demokratischen Anspruch - hat es nicht geschafft, der Industrialisierung, dem wirtschaftlichen Wachstum und der Durchsetzung der Menschenrechte den Weg zu bereiten. Dürreperioden, Nahrungsmittelknappheiten und Hungersnöte wechselten einander ab und veranlassten Kritiker der Regierung, Landreformen und eine Modernisierung der landwirtschaftlichen Produktion als unabdingbare Voraussetzungen für eine weitere Entwicklung zu fordern - vergeblich.
»In einem Land, in dem es keine verantwortungsbewusste Regierungsführung gibt und die Regierung sich aus Großgrundbesitzern und Unternehmern zusammensetzt, während die Bevölkerung zum größten Teil aus Pächtern besteht, kann man sich nur schwer vorstellen, wie der Privatsektor der Wirtschaft wachsen soll«, sagte im Jahr 2005 Lidetu Ayalew, Generalsekretär der oppositionellen Ethiopean Democratic Party (EDP). 9
»Nachdem die EPRDF seit ungefähr vierzehn Jahren die Regierungsgewalt innehat, haben bis zu zwanzig Prozent der fünfundsechzig Millionen Einwohner des Landes nicht einmal eine Mahlzeit am Tag«, sagte Berhane Mewa, der Präsident der Handelskammer von Äthiopien und Addis Abeba. 10
Stattdessen betrieb die Regierung eine deutlich ethnisch geprägte Politik (wodurch vor allem die Tigray - denen der Regierungschef selbst angehört - gefördert wurden, so als wären die anderen ethnischen Gruppen Rivalen), rasselte gegenüber Eritrea mit dem Säbel und brachte Oppositionelle und Journalisten zum Schweigen. »Solange die EPRDF am Ruder bleibt, so lange bleibt das Land in Staatsbesitz«, sagt Meles. Grenzstreitigkeiten mit Eritrea treiben die Militärausgaben in schwindelerregende Höhen: Der eskalierende Konflikt, der 1998 schließlich zum Krieg führte, kostete die Regierung
Weitere Kostenlose Bücher