'Alle meine Kinder'
Jahres vom College verwiesen und von ihren Eltern verstoßen worden, als klar wurde, dass ihr hartnäckiger Husten nicht nur von einer Tuberkulose herrührte (die ihre Eltern noch veranlasst hatte, sie ins Auto zu packen und zu den besten Ärzten zu bringen), sondern von etwas Unaussprechlichem (weswegen sie sie des Hauses verwiesen). Wie die meisten äthiopischen Mädchen war auch diese junge Frau zur Unterwürfigkeit erzogen worden, so dass sie nicht darauf vorbereitet war, allein in der Stadt zurechtzukommen; als Haregewoin sie fand, saß Sara zusammengekauert in einem Torweg. Anders als vielleicht Sara selbst wusste Haregewoin, dass das junge Mädchen bald nur noch die Wahl haben würde, zu betteln oder seinen Körper zu verkaufen.
Es war also ein seltener Anblick, der sich hier an einem ganz normalen Wochentag in Ostafrika bot: ein Haus, in dem Männer und Frauen aus der Mittelschicht, die von der Epidemie nicht persönlich betroffen waren, neben Männern und Frauen saßen, die ihr hilflos ausgeliefert waren.
Der Regen prasselte auf das Dach, verwandelte den Hof in eine riesige Schlammpfütze und trieb Horden barfüßiger kleiner Kinder durch Haregewoins offene Tür.
Ich saß auf einem schmalen Sofa neben einer finster dreinblickenden alten Frau, die in einen Kokon aus handgesponnener Baumwolle gehüllt war. Ihre dunkle, schlaffe Haut und die hängenden Augenlider wurden von einem Kopftuch nach oben gezogen, was ihr den Ausdruck besorgter Missbilligung verlieh. Ich weiß nicht, ob sie sich darüber ärgerte, dass ihr Gesicht in eine Grimasse gezwungen wurde oder weil sie an mich geraten war. Im Laufe der Stunden wurden wir wie Fremde auf einer nächtlichen Busreise widerstrebend miteinander vertraut. Heimlich und ohne dabei eine Miene zu verziehen, schoben wir uns gegenseitig millimeterweise über das umkämpfte Territorium.
Der Wind wehte feinen Sprühregen durch die offen stehende Tür. Das weiß gestrichene Zimmer schien wie ein Hausboot auf dunklen Wellen hin und her zu schaukeln. Die mumifizierte Witwe an meiner Seite gewann langsam an Boden, während sie sich aus ihren langen Baumwollschals schälte.
Es hatte ein paar Wochen gedauert, bis ich mich daran gewöhnt hatte. An den langen Nachmittagen, wenn die Luft in Addis Abeba von Regen gesättigt ist, flüchten sich die in der Stadt lebenden Tiere - Ziegen, Schafe, Esel, streunende Hunde, Spechte, Spottdrosseln, Schwalben - in Ritzen und Nischen, oder sie ziehen zum Schutz vor der Sintflut den Kopf ein und schlafen. In diesen Stunden sehne ich mich danach, mich die Treppe zu meinem sauberen Zimmer im Yilma Hotel hochzuschleppen, die schlammverkrusteten Schuhe und Socken abzustreifen, einen Schluck aus der Wasserflasche zu nehmen, mich mit Bahru Zewdes History of Modern Ethiopia ins Bett zu legen und dann zu schlafen, während sich die langen, dünnen Vorhänge, schwer von der Nässe und vom Geruch des Regens, bauschen.
Aber hier saß ich auf einem Sofa in Haregewoins Zimmer und konnte nicht weg. Die allgemeine Trägheit hatte auch mich erfasst. »Jetzt?«, sagten alle befremdet. »Du willst jetzt gehen, bei diesem Wetter?« Sicherlich dachten einige: Die ferange , die Weiße, muss jetzt irgendwohin? Selamneh Techane, mein Freund und Fahrer, der mit in die Hände gestütztem Kopf dasaß, richtete sich auf und sah mich mit müden Augen verwundert an. Immer wenn ich mich erheben wollte, streifte die Matrone neben mir eine weitere Schicht ihrer Tücher ab.
Bleib einfach hocken, schienen alle sagen zu wollen; wir werden das gemeinsam durchstehen. Also hockten wir während des endlosen Trommelns des nachmittäglichen Regengusses beisammen. Der Kaffee aus den kleinen Tassen, in denen am Boden dick der braune Zucker stand, versetzte uns aus irgendeinem Grund noch schneller in einen schläfrigen Zustand. Nachdem wir unsere leeren Tassen auf das vierbeinige Holztablett, das auf dem Boden stand, zurückgestellt hatten, versickerte das Gespräch in kürzester Zeit. Keiner klopfte gegen die Lampe, als das schwache Licht zu flackern begann. Niemand schaltete den verstaubten Fernseher ein, auf dem auf einem vergilbten Deckchen eine Vase mit Plastikblumen stand. (Es gab auch nichts anzusehen: Tag für Tag brachte der von der Regierung kontrollierte Fernsehsender praktisch ununterbrochen traditionelle Tänze, unter gleißendem Studiolicht von springenden, hüpfenden Tänzern vorgeführt.) Meine unerschütterliche Sitznachbarin, die sich mittlerweile fast
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