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'Alle meine Kinder'

'Alle meine Kinder'

Titel: 'Alle meine Kinder' Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melissa Fay Greene
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auf.
    »Darf ich fahren?«, fragte der Junge mit klarer, heller Stimme.
    Selamneh verlor vor Lachen beinahe das Gleichgewicht. Als er sich wieder beruhigt hatte, sagte er: »Na ja, vielleicht nicht gleich beim ersten Mal. Komm, mal sehen, ob es dir gefällt.«
    » Abate yimetal? « Kommt mein Papa auch mit?
    »Wir fahren zum Markt und kaufen Kekse für deinen Vater, ein Geschenk für ihn«, improvisierte Selamneh. Bei diesen Worten kam der kleine Mintesinot hinter seinem Vater hervor, nahm Selamnehs Hand und ließ sich bereitwillig zum Taxi führen und auf den Rücksitz setzen. Er winkte ein paar Bewunderern auf dem Bürgersteig von seinem Thron aus zu.
    Ich drängte mich an den Leuten vorbei zum Vater durch. »Weiß er, wohin wir fahren? Weiß er, dass wir Mintesinot mitnehmen?« Meine Hände zitterten, weil alles so schnell ging, der Motor des Taxis lief schon wieder, Autos, denen es im Weg stand, begannen zu hupen, Leute rannten herum; hastig kramte ich in meinem Rucksack nach einem Stift und einem Blatt Papier und hielt beides in die Höhe. Einer der freundlichen jungen Männer nahm es und schrieb Haregewoins Telefonnummer und Adresse für Eskender auf. Der Vater dankte uns mit seinem unendlich traurigen Lächeln und steckte den Zettel in die Brusttasche seines Hemdes.
    Dieses Kind war ganz offensichtlich sein Leben; er hatte mit nichts, nur mit Lumpen und Abfall und Almosen einen bezaubernden, selbstsicheren Jungen durchgebracht. Aber er hatte gewusst, dass dieser Tag kommen würde. Er begriff, dass gesunde Leute gekommen waren, um seinen Sohn mitzunehmen. Müde ließ er sich auf seinen einsamen Haufen von Decken sinken. Als wir mit Mintesinot weggingen, machte die ganze Straße einen ärmeren Eindruck; der Vater hatte seinen einzigen Schatz verloren, als er die neue Adresse seines Sohnes wie eine Quittung in Empfang genommen hatte.
    Kaum fielen die Türen des Autos zu, verschwand Mintesinots Lächeln. » Abi! «, schrie er, als das Taxi losfuhr. »Papa!« Er krabbelte zum Fenster. Seine Neugier erlosch schlagartig, und an ihre Stelle trat die Panik, von seinem Vater getrennt zu werden.
    »Wir wollen doch mal sehen, ob wir für deinen Vater nicht ein paar Kekse kriegen können«, sagte Selamneh wieder, aber der Junge kniete schon auf der Rückbank und starrte mit ängstlichem Gesicht zur Heckscheibe hinaus. Er versuchte, sich den Weg nach Hause einzuprägen.
    »Minty, Minty«, sang Haregewoin, drehte sich zu ihm um und klatschte in die Hände. Als er nicht reagierte, seufzte sie und sah wieder aus dem Fenster. Das kebele hatte ihr einen klaren Auftrag gegeben; sie konnte den Sohn retten, den Vater nicht.
    Als wir in den von Wellblechwänden umgebenen Hof von Haregewoin fuhren, wimmerte Mintesinot: »Das ist gar nicht der Markt!« Ich erinnerte mich, dass ich noch eine Packung italienischer Kekse in meinem Rucksack haben musste, die von einem sechsstündigen Aufenthalt auf dem Flughafen von Rom vor einer Woche übrig geblieben waren. Ich reichte Mintesinot die Packung mit den restlichen Keksen und ging damit unwillentlich auf Selamnehs Trick ein. » Biskut! «, rief er triumphierend. »Kekse für meinen Papa!«
    »Dann wollen wir dich mal waschen, junger Mann«, sagte Hagewoin und reichte ihn an Sara weiter. Fünf Minuten später war lautes Protest- und Angstgeheul zu hören. War das Kind überhaupt schon jemals gebadet worden? Eine halbe Stunde später kam Prinz Mintesinot mit glänzenden schwarzen Locken, einem sauberen T-Shirt und dunkelblauen, umgeschlagenen Bluejeans zurück, an seinen Füßen prangten ein Paar gebrauchte Power-Rangers-Turnschuhe mit Klettverschluss.
    Als Mintesinot Selamneh erblickte, lief er zu ihm und warf sich in seine Arme. »Jetzt fahren wir zu meinem Papa!«, rief er strahlend.
    Der Taxifahrer setzte ihn auf sein Knie. »Ich wünschte, ich könnte den kleinen Kerl zu mir nehmen«, sagte er. Selamneh, ein sanftmütiger siebenunddreißigjähriger Mann mit einem eckigen Gesicht, das ein spärlicher Schnurrbart zierte, sehr einfühlsam und klug, hätte ohne Weiteres der Vater von Mintesinot sein können. Wenn die wirtschaftlichen Verhältnisse anders gewesen wären, hätte Selamneh, der am liebsten Khakihosen, karierte Hemden und braune Oxford-Halbschuhe trug, Geschichtslehrer sein können, oder Psychologe oder Journalist. Aber so lebte er im Haus seiner Mutter, ohne Frau und unterbeschäftigt. In diesem Land gab es keine vernünftigen Darlehens- und Grundbesitzregelungen; man konnte

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