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'Alle meine Kinder'

'Alle meine Kinder'

Titel: 'Alle meine Kinder' Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melissa Fay Greene
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ausgewickelt hatte, schnarchte vor sich hin.
     
    Haregewoins Handy klingelte, und sie meldete sich mit einem knappen »Allo? Abet ?« (Ja?). Der Sofatisch war mit Papieren bedeckt, und es gab noch ein Festnetztelefon, das ebenso oft klingelte. Auf Haregewoin Teferra lasteten weder Wind noch Regen oder Schläfrigkeit. Selbst bei diesen sintflutartigen Regenfällen ging das Leben in der Stadt weiter, und sie musste Verhandlungen führen. Vielleicht wollte sie ihren alten Freunden auch sagen: »Seht ihr? Ich bin noch am Leben.«
    Sie ließ das Handy sinken und starrte nachdenklich vor sich hin.
    »Was ist los?«, fragte jemand. Damit hatte sie gerechnet.
    »Das ist das kebele , die Gemeinde- und Stadtteilverwaltung. Sie fragen, ob ich Platz für ein Kind habe.«
    Einige Besucher lachten auf, unter der Oberfläche regten sich Zweifel. Die Äthiopier - besonders die vom Hochland, die Amhara und die Tigray - sind bekannt für ihren Sarkasmus, daher fielen vielleicht auch einige versteckte Boshaftigkeiten in einer Sprache und mit einer Scharfzüngigkeit, die ich sogar in der Übersetzung nicht verstehen konnte. Die Äthiopier haben ihre Begabung zur doppelbödigen Rede jahrhundertelanger Tyrannei zu verdanken. Sie hat sogar einen Namen: säm enna wärq (Wachs und Gold), säm ist die oberflächliche Bedeutung und wärq die tiefere oder verborgene Bedeutung. Wer diese Art des Sprechens beherrscht, gilt als Meister der Redekunst.
    Wie dem auch sei, Haregewoin hatte jedenfalls keinen Platz mehr für ein weiteres Kind: das Haus mit seinen zwei Zimmern, die beiden kleinen Nebengebäude und der verrostete, hellblaue Güterwaggon, aus dem eine Tür herausgeschnitten worden war, platzten jetzt schon aus allen Nähten vor Kindern jeden Alters, die wehmütigen Erwachsenen, die sich hier herumdrückten, nicht zu vergessen.
    Sie setzte sich kurz, das Handy an die Brust gedrückt, die Finger der anderen Hand am Mund, und zählte. Keiner bewegte sich, und keiner bot an, an Haregewoins Stelle das Kind zu sich zu nehmen. Wer wusste schon, in welchem Zustand es war. Möglicherweise hatte es eine Krankheit, vermutlich ansteckend, sicher war es hungrig und schmutzig; barfuß, ohne Schulbildung, verzweifelt. Nein danke. Es wurde zwar begrüßt, dass das kebele sich darum kümmerte, aber weder das kebele noch die Regierung kamen für den Unterhalt des Kindes auf.
    Haregewoin erhob sich. »Ich gehe«, sagte sie.
    Überzeugt, an diesem Nachmittag im Sinne der anderen zu sprechen, sagte ich: »Jetzt? Du willst jetzt gehen?« Bestätigung heischend sah ich die anderen an.
    Aber das fragte man nicht jemanden, der tatsächlich zu arbeiten hatte, da richtige Arbeit schwer zu finden war und stets geachtet wurde. Einige müssen gedacht haben: Jetzt will plötzlich die ferange nicht gehen?
    »Darf ich mitkommen?«, fragte ich, schon etwas kleinlauter.
    »Ja. Ishi , in Ordnung. Komm. Bitte.«
    Selamneh Techane, der Taxifahrer, sprang sogleich auf, die Schlüssel in der Hand. Haregewoin besaß kein Auto, ganz zu schweigen von zwei Autos wie während ihrer Ehe. Sie nahm ihren shamma (ein dickes, handgewebtes Tuch) und ihre schwarze Handtasche und schlurfte munter über den Hof.
    »Wohin gehen wir?«, fragte ich, während ich hinter ihr her durch den Schlamm watete.
    »Das Kind holen«, rief sie mir über die Schulter zu und kletterte auf den Beifahrersitz von Selamnehs stahlblauem Taxi. Ich nahm hinten Platz, und schon schossen wir davon.
     
    An der Kreuzung zwischen der unbefestigten Straße hügelaufwärts und der asphaltierten Durchgangsstraße hielten wir an, um eine Frau in Khakihose und Regenjacke einsteigen zu lassen, die vor ihrem Haus auf uns wartete. Nachdem sie neben mir Platz genommen hatte, stellte sie sich vor und schüttelte allen die Hand. Sie hieß Gerrida; sie war Hausfrau und mit einem Polizisten verheiratet. Sie war diejenige, die im Namen des kebele angerufen hatte.
    »Der Kleine heißt Mintesinot. Er ist ungefähr zweieinhalb Jahre alt«, sagte Gerrida. Er lebte auf der Straße, in der Nähe einer vielbefahrenen Kreuzung in der Stadt. Zwei Monate zuvor war seine Mutter Emebate an Lungenentzündung gestorben (eine opportunistische AIDS-Infektion); inzwischen war auch sein Vater schwer erkrankt und hustete die ganze Nacht, wahrscheinlich hatte er Tuberkulose (TB ist eine der typischen opportunistischen AIDS-Infektionen, die ein durch HIV geschwächtes Immunsystem befallen). 2 Allen war klar, dass der junge Vater bald sterben

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