Alle müssen sterben - Thriller (German Edition)
die Kontrolle verloren hatte, hatte er an einer feuchtglänzenden, vermoderten Hausmauer die Signatur, die im Sprayer-Jargon Tag genannt wurde, in mattem Weiß entdeckt.
Es war das Tag eines anderen Sprayers, das ihm verschlüsselt zeigte, wo er sich den richtigen Kick für seine Arbeit holen könnte. In dieser Nacht im Juli folgte Jonas diesem Tag, das ihn bis an die Donau führte, die mitten durch die Industriestadt Linz fließt. Vorsichtig schlich er auf einen unbeleuchteten Parkplatz und achtete darauf, dass die Cans, wie Sprayer ihre Sprühdosen nannten, in seinem kleinen Nylonrucksack nicht allzu sehr klapperten.
Die vom Wind aufgepeitschten Wellen der Donau klatschten heftig gegen die Kaimauer. Der Parkplatz war einst eine Anlegestelle für Ausflugsboote gewesen, aber die Touristen hatten es satt gehabt, die abgewrackten Lagerhäuser und rostigen Kräne zu sehen. Deshalb wurde daraus ein Parkplatz für die Nachtschwärmer, die den „Hafenstern“ frequentierten, ein in letzter Zeit ziemlich angesagtes Lokal, direkt am Hafen.
An der Seitenwand des Lokals entdeckte er das Tag schon von Weitem, denn es war direkt neben einen Strahler gesprayt, der die unverputzte Ziegelmauer beleuchtete. Jonas verzog sein verwachsenes Gesicht mit dem struppigen Bart zu einem Grinsen. Was für ein Glück, dass er als Erster dieses Tag gesehen hatte, das ihn direkt hierher zu dieser leeren Wand führte, die nur darauf wartete, mit einem Graffiti, einem Piece von ihm gekennzeichnet zu werden.
Da er jedoch genau wusste, welches Motiv er an die Wand sprayen würde, machte das auch die Fliegen in seinem Inneren wieder unruhig und er verzerrte das Gesicht zu einer Grimasse und riss sich mit den Fingern Haarbüschel aus seinem ungepflegten Bart. Natürlich warnten ihn diese Anzeichen und so hockte er sich neben einen Wagen und kratzte mit den Fingernägeln über den Lack, so lange, bis seine Klauenfinger blutig waren und die Fliegen sich beruhigt hatten. Dann atmete er tief durch und tastete sich in der Dunkelheit vorwärts, streifte gebückt laufend an den Autos vorbei, die alle wie aufgefädelt an der Kaimauer parkten. Plötzlich knallte er mit seinem Schädel gegen eine Wagentür, schrak aus seinen Gedanken, die in der Nacht verglühten wie ein Feuerball.
Es war ein großer Geländewagen, der nicht wie die anderen Fahrzeuge entlang der Kaimauer parkte, sondern der Fahrer hatte ihn einfach quer in eine Lücke gezwängt und sich auch nicht darum geschert, dass die Hälfte des Wagens noch in die Straße ragte. Überhaupt schien sich der Fahrer wenig um den Zustand seines Wagens zu kümmern, denn der Geländewagen war dreckverschmiert und die Karosserie, auf die der immer stärker werdende Regen trommelte, war rostig und ziemlich verbeult.
War dieser Wagen ein Wink des Schicksals, der ihn zumindest heute Nacht von seinen Schuldgefühlen befreien würde?
Dieser Gedanke ging Jonas durch den Kopf, während er langsam seinen Rucksack öffnete, seine Cans auspackte. Wenn er das Motiv, das er heute sprayen musste, nicht an die Wand des Lokals, sondern auf die Wagentür sprayen würde, dann würde der Wagen irgendwann im Regen verschwinden und mit ihm das Motiv, das so vielleicht auch aus seinem Kopf verschwand, und er musste es dann nie wieder sprayen.
War diese zerkratzte, eingedellte, rostige Wagentür seine Rettung?
„Fuck!“, presste er mehr aus Gewohnheit, denn aus Zwang noch einmal hervor, dann griff er nach der orangen Leuchtfarbe, die ihn am ehesten an Feuer erinnerte, und wischte mit seinem regennassen Ellbogen den Dreck von der Tür des Geländewagens. Alles begann erneut, als er die Augen schloss und sich das Motiv ins Gedächtnis rief. Alles war so, als wäre es erst vor wenigen Augenblicken passiert. Alles war still, nur das Prasseln des Regens auf die Fahrzeuge und das Klatschen der Wellen gegen die Betonmauer bildeten den Soundtrack zu seinem automatisierten Sprayen.
Aus der Wunde an seinem Kinn, dort, wo er sich die Barthaare ausgerissen hatte, tropfte noch ein wenig Blut, das er sich mit seinem Handrücken abwischte. Wahrscheinlich würde ein Furunkel entstehen, so wie die anderen Male in seinem Gesicht. Deshalb hatte er den Bart wachsen lassen, um sich nicht das Gesicht zu zerkratzen, wenn der Zwang nicht mehr zu unterdrücken war. Jonas war so vertieft in seine Arbeit, dass er die Welt rund um sich herum ausblendete und in sein Paralleluniversum eintauchte, in dem Flammenschiffe und brennende Gestalten ihr
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