Renner & Kersting 01 - Mordsliebe
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Zärtlich wiegte sie den zerbrechlichen Körper in ihren Armen, während sie unhörbar flüsterte: Gleich wird es dir besser gehen, mein armer Liebling. Schsch, ruhig, ich werde dir helfen. Du brauchst keine Angst zu haben. Ich bin bei dir. Ganz ruhig, mein Kleiner, bald wird niemand mehr mit dir schimpfen oder dir wehtun. Nie wieder wirst du allein und einsam sein. So ist es gut, halte einfach still, und ich werde dich führen. Für dich gibt es nur noch Freude, Frohsinn und Lachen. So gerne höre ich dich glücklich und unbeschwert lachen, komm, lach noch einmal, lache für mich. Du magst nicht? Das macht nichts, du darfst tun, was du möchtest. Endlich! Denn jetzt bist du frei. Frei! Frei! Frei!
Glücklich und traurig zugleich blickte sie auf den Kleinen hinunter, bevor sie ihn sanft zu Boden gleiten ließ, sich verabschiedete und langsam davonging.
Es herrschte jene fahle Dämmerung, die den baldigen Sonnenaufgang anzeigte. Schmutzig graue Wolken zögerten den Beginn des Apriltages jedoch hinaus. Trotz der frühen Stunde schimmerte hinter vielen Fenstern der Mietskasernen schon Licht. In den Hauseingängen hatten sich Werbebroschüren angesammelt; der Inhalt geplatzter Müllsäcke quoll wie graues Gedärm auf den Gehweg, und aufgeweichte Fritten und Brötchen bildeten Ekel erregende Stillleben im Rinnstein. In diesem Viertel gab es keinen Platz für Vorgärten mit Blumen. Die Straßen waren schmal und so zugeparkt, dass weder Feuerwehr noch Müllwagen hätten durchkommen können.
Klaus Kersting atmete auf, als er endlich das Gewirr der verwinkelten Gassen hinter sich lassen konnte. Doch auch auf dem Ring, der die City umgab, kam er nicht schneller voran. Stoßstange reihte sich an Stoßstange, während einige ungeduldige Fahrer erfolglos auf ihre Hupen drückten. Kersting dagegen dankte dem Himmel für die langsame Fahrt. Ihm fiel es schwer, sich auf den Verkehr zu konzentrieren. Immer wieder irrten die Gedanken ab zum Westpark, wohin man ihn in aller Herrgottsfrühe gerufen hatte. Gab es etwas Erbarmungswürdigeres als einen leblosen Kinderkörper zwischen Unrat und Unkraut? Auf seinem Weg zum Polizeipräsidium haderte er einmal mehr mit dem Schicksal und dessen Unbarmherzigkeit.
Während er auf den Aufzug wartete, sah er wieder den kleinen Jungen vor sich, wie er im gleißenden Licht der Scheinwerfer lag, mit verzerrtem Gesicht, eine verwelkte Blüte im halbgeöffneten Auge.
Oben auf dem Flur begegnete ihm Masowski. Kersting unterdrückte ein Aufstöhnen. So sehr er die lockere Art des Jüngeren manchmal begrüßte, jetzt stand ihm nicht der Sinn nach dummen Witzen. Und richtig! Kaum hatte Masowski seinen Kollegen erspäht, musterte er ihn mit unverschämtem Grinsen von oben bis unten, um dann übertrieben mitleidig zu fragen: „Was ist denn mit dir los? Du siehst aus, als hättest du die Nacht durchgezecht! Oder gibt es eine neue Freundin?” Jürgen Masowski lachte dröhnend und lange, um seine Verlegenheit zu überspielen. Ihm war gerade wieder eingefallen, wie sehr der Kollege es hasste, auf eine Freundin angesprochen zu werden. Seitdem seine Verlobung vor einem Jahr ganz plötzlich in die Brüche gegangen war, wurde er unausstehlich, wenn das Gespräch auf Frauen kam. „Sorry, war nicht so gemeint”, entschuldigte Masowski sich vorsichtshalber. Er war zwar neugierig, aber nicht impertinent.
Doch Kersting schien gar nicht richtig hingehört zu haben. „Es gibt eine neue Leiche.”
„Na und? Leichen sind schließlich unser Job. Deshalb arbeiten wir doch hier.” Ausgeruht und vor Energie strotzend grinste Masowski seinen Partner an. Er besaß einen morbiden Sinn für Humor, den er nach Kerstings Geschmack viel zu oft von der Leine ließ. „Wie heißt das Sprichwort? Leiche am Morgen bringt Kummer und Sorgen.”
Kersting schüttelte den Kopf. Würde der Kerl denn nie begreifen, dass dumme Sprüche absolut unpassend waren? Sicher, jeder besaß seine eigenen Methoden mit den Belastungen des Alltags fertig zu werden, doch Masowskis aufgesetzte Fröhlichkeit ging ihm auf die Nerven, seitdem sie zusammen arbeiteten und heute Morgen ganz besonders. Um halb vier hatte das Telefon einer schlaflosen Nacht ein Ende bereitet. Zu viele Erinnerungen. Zu viele schlimme Erfahrungen.
Masowski hatte inzwischen weiter geredet und wartete offensichtlich auf eine Antwort.
„Entschuldige. Was sagtest du?”
„Wieso du überhaupt schon hier bist, wollte ich wissen. Du hattest doch frei, oder?”
„Was
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