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Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Titel: Alle Toten fliegen hoch: Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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Das war eigentlich verboten, aber darum kümmerte er sich nicht. Den Angelhaken stieß er ihnen einfach um die Wirbelsäule herum durch den Rücken. Mehrere so präparierte Fischlein hingen wie an einem Mobile im Wasser und sollten durch ihre sanfte, dem Tode geweihte Agonie die Hechte anlocken.
    Mein Bruder war nicht nur ein passionierter Angler, sondern auch stolzer Besitzer mehrerer 300-Liter-Aquarien. Es war noch gar nicht lange her, dass er zusammen mit seinen Freunden in seinem abgedunkelten Zimmer Kampffischturniere veranstaltet hatte. Die Freunde trugen in mit Wasser gefüllten Plastiksäckchen ihre besten Kämpfer in sein Zimmer. Mit einem Taschenspiegel wurden die Kampffische aggressiv gemacht. »Nichts«, sagte meine Bruder, »hasst ein Kampffisch so sehr wie sich selbst!« Voller Zorn, mit aufgefächerten Flossen, attackierten sie ihr Spiegelbild. Wenn sie nach Expertenmeinung genug Angriffslust aufgebaut hatten, wenn sie »richtig heiß« waren, kamen zwei von ihnen in das pflanzenlose Kampfbecken. Mein Bruder und seine Freunde hockten darum herum und feuerten die Fische an. Durch Flehen, Handlangerdienste und unter auf Knien gegebenen Schwüren hatte ich das Herz meines Bruders erweicht und durfte hin und wieder zusehen. Die Kampffische stürzten sich aufeinander, jagten sich, bissen sich. Sie hörten nicht eher auf, bis einer von ihnen tot war und von seinem Besitzer enttäuscht herausgefischt wurde. »Mein Gott, was für ne nasse Null!« Die Sieger waren allerdings keine strahlenden. Bisswunden und eingerissene Flossen waren die Insignien ihres Mutes. Häufig verstarben die schillernden Helden schon kurze Zeit später, überlebten die Besiegten nur um eine lächerliche Stunde, und folgten ihnen durchs Klo ins Kampffischjenseits. Mein Bruder und seine Freunde erzählten gerne Veteranengeschichten. Erzählten von Fischen, die zehn, ach was, fünfzehn Kämpfe überstanden hatten und noch als schwanz- und flossenlose, mit Narben übersäte Krüppel verbissen weiter angegriffen hätten. Im Garten hatten wir einen kleinen Friedhof. Hier lagen Meerschweinchen und Zebrafinken. Eine extra Sektion war der Heldenfriedhof. Hier wurden die Kampffische, die zu Ruhm gekommen waren, die wenigen wahren Sieger, zur letzten Ruhe gebettet. Brettchen mit klangvollen Namen schmückten die Gräber: »Diamond Dog«, »Major Tom« oder »Ziggy Stardust«. Gewettet wurde um kleine Geldbeträge, die rund ums Aquarium auf der Tischplatte lagen. Als mein Vater von den Kampffischwettkämpfen erfuhr – er hatte ein arg zerrupftes Exemplar in der Kloschüssel entdeckt –, war er sprachlos, verbot sie strengstens und hielt meinem ältesten Bruder eine Moralpredigt über die Achtung vor der Kreatur. Ich wurde verdächtigt, ihm alles gepetzt zu haben. In einem halbstündigen Schwitzkastenverhör versuchte mir mein Bruder die Wahrheit abzupressen. »Los, Verräter, gib zu, dass du uns verpfiffen hast!« Das war das Ende der Wettkämpfe und die in Bundeswehrparkas herbeischlurfenden Freunde mit ihren Plastikbeutelgladiatoren verschwanden. Worüber ich noch oft nachgedacht hatte, war Folgendes: Warum sanken einige der getöteten Kampffische zum Grund und warum trieben andere an der Oberfläche? Wen machte der Tod leicht und wen schwer?
    Nach zehn Minuten Zugfahrt erschien ein hundert mal hundert Meter großer Baggersee mit einer automatischen Wasserskianlage. Wo ich immer, immer mal hinwollte. An einer Art Schlepplift kann man sich dort im Karree über das Wasser ziehen lassen. Nach fünfzehn Minuten gab es einen Blick auf die weitentfernten Hüttener Berge und die Kuppeln dreier in der Sonne glänzender, kugelförmiger Radaranlagen. Angeblich waren dort auch mehrere Langstreckenraketen im Boden versenkt. Unter automatischen Luken, in Schächten verborgen, jederzeit bereit, in nur sechsunddreißig Minuten nach Moskau zu zischen. Kurz sah ich die Kuppe des höchsten Bergs Schleswig-Holsteins: den Bungsberg. Mit 168 Metern eine Vollkatastrophe von Berg. Aufgrund der lächerlichen Höhe ist ein Datum der Erstbesteigung nicht bekannt.
    Ich war ein wenig aufgeregt, denn der Grund für meine Reise nach Hamburg war ein besonderer. Ich hatte in der Schule einen Tag freibekommen und sollte am Mittag an einem Ausscheidungsverfahren teilnehmen, das darüber entscheiden würde, ob ich nächstes Schuljahr für ein Jahr nach Amerika gehen könnte. Die Organisation, mit der ich den Austausch plante, hatte mir mehrere Briefe geschrieben und immer den

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