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Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Titel: Alle Toten fliegen hoch: Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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wenigen lockeren Linien den Umriss skizzieren und schon liegt da eine Kuh auf dem Gehweg. Doch selbst unter Androhung der schlimmsten Folter könnte ich es nicht. Das habe ich mir damals oft überlegt, ob ich etwas besser können würde, wenn mir etwas Grauenhaftes angedroht würde: »Los! Löse diese Rechnung, oder wir erschießen euren Hund!« Hätte das genützt? Vor Schwimmwettkämpfen habe ich mir immer vorgestellt, dass es um mein Leben oder das meiner Brüder oder Eltern gehen würde: »Los! Schwimm, so schnell du kannst! Nur wenn du Kreismeister wirst, sagen wir dir, wo wir die Kiste mit deinen Eltern im Wald vergraben haben.« Ich hatte von meinem ältesten Bruder erzählt bekommen, dass eine Mutter, deren Kind unter die Kette einer Schneeraupe gerutscht war, diese Schneeraupe hochgewuchtet und umgekippt hatte. Schlummerten solche Kräfte auch in mir? Und was musste geschehen, um sie zu entfesseln? Mit solchen Fragestellungen konnte ich mich stundenlang beschäftigen!
    Ich knie auf dem Gehsteig und versuche, eine Kuh zu malen. Da kommt ein Mann, bleibt vor mir stehen, packt mich mit der einen Hand am Fußgelenk, mit der anderen am Handgelenk, schleudert mich einmal im Kreis herum und wirft mich über eine hohe Hecke. Einfach so! Ich fliege durch die Luft und lande bei fremden Leuten im Garten, die gerade feierlich Tomaten ernten und jede Tomate in die Sonne halten. Die Frau stürzt auf mich zu. »Was fällt dir denn ein? Du spinnst wohl. Steh sofort auf! Mach, dass du aus unserem Garten kommst!« Sie packt mich am T-Shirt und zerrt mich zu einem Gartentörchen. Der Mann brüllt: »Du unverschämter Bengel! Hau ab, sonst knallt’s!« Der Kopf des Mannes wird vom Brüllen so schön rot wie die Tomate in seiner Hand. Er droht mir mit einer grünen Schaufel und sabbert vor Zorn auf sein verschwitztes Unterhemd. Die Frau öffnet das Törchen, greift mir in die Haare, reißt an meinen blonden Locken, schüttelt mich, kreischt immer wieder »Das ist unser Garten! Ist das so schwer zu verstehen? Das ist unser Garten! Hau ab! Das ist unser Garten!«, und schubst mich mit solcher Gewalt auf den Gehweg, dass ich stolpere und mir ein Knie blutig schlage. Ich sitze da und fange an zu weinen. Eine andere Frau kommt den Gehweg entlang, zeigt auf meine halb fertige Kuh und sagt: »Warum weinst du denn? Das wird doch ein schönes Pferd!«
    Diese Begebenheit hat höchstens vierzig Sekunden gedauert und ist eine Erinnerung von unanfechtbarer Größe. Als ich am Abendbrottisch erzählte, dass mich ein Mann über eine Hecke geworfen habe, bekamen meine beiden Brüder einen Lachanfall und sagten abwechselnd Dinge wie »Ja, und mich hat gestern einer über die Straße geworfen!« oder »Der wird überall gesucht. Da hast du aber noch mal Glück gehabt! Eigentlich beißt er Kindern, bevor er sie über die Hecke wirft, den Kopf ab!«. Sie lachten dabei so sehr, dass ihnen der Schinken vom Brot fiel. Ich wurde böse, stellte mich auf den Stuhl und krempelte mein Hosenbein hoch. »Und was ist das hier?«, rief ich verzweifelt. Meine Mutter fragte mich: »Was hast du denn mit deinem Knie gemacht, mein Lieber?« Ich antwortete: »In dem Garten, wo ich gelandet bin …«, meine Brüder brüllten »Gelandet!!!« und rutschten vor Lachen von ihren Stühlen unter den Tisch.
    Der Zug knallte mit den Türen und setzte sich in Bewegung Richtung Hamburg. Ein letzter frühkindlicher Schicksalsschlag, der mit Hamburg, meinem Reiseziel an diesem Tag, zu tun hatte: In der zweiten Klasse machte ich einmal einen Schulausflug zu einer Rutschenausstellung. Wir kamen mit dem Bus an und vor uns ragten unglaubliche Rutschen in die Höhe. Hubbelrutschen, Röhrenrutschen, Rutschen mit Steilkurven und sogar eine Riesenrutsche, auf die, das hatte unsere Lehrerin feierlich angekündigt, eine Rolltreppe hinaufführen würde. Sie rief damals mit Abenteuerpathos in der Stimme von ihrem Platz neben dem Fahrer in den Bus hinein: »Diese Rutsche ist der Mount Everest unter den Riesenrutschen!« Noch ehe der Bus gehalten hatte, drängten sich alle auf die eine Seite – ein Schiff wäre gekentert – und zig Finger zeigten auf die alle anderen überragende Riesenrutsche. Wir wollten so schnell wie möglich aus dem Bus raus und loslaufen. Nur mit Mühe, immer wieder von vor Rutschdrang entfesselten Schreien unterbrochen, gab die Grundschullehrerin ihre Anweisungen: »Fasst euch bitte an den Händen!« In einer gebändigten, zum Losspurten bereiten, energiegeladenen

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