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Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Alle Toten fliegen hoch: Amerika

Titel: Alle Toten fliegen hoch: Amerika Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joachim Meyerhoff
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war, da die Polizisten voll auf der Seite der Anrainer standen und nicht wenige von ihnen ebenfalls unter der Stahlkonstruktion wohnten. Sobald sie dienstfrei hatten, zogen sie die Uniform aus und kletterten selbst auf die Brücke. Die Deutsche Bahn lenkte ein und versprach, etwas zu ändern. Und ein oder zwei Jahre lang, bis die Züge endlich Fäkalientanks bekamen, gab es immer, kurz bevor man über die Rendsburger Hochbrücke fuhr, eine Durchsage, die ich sehr mochte und die stets zu einer gewissen Heiterkeit in den Abteilen führte: »Liebe Zugreisende, die Benützung der Toiletten ist während der Brückenüberfahrt strengstens verboten, da es für die Bevölkerung zu Unannehmlichkeiten kommen kann.«
    Ich war alleine im Abteil und hatte das Fenster hinuntergezogen. Der Vorhang schlug wild hin und her. Gleich würden wir nach Neumünster kommen. Dann war es nur noch eine Stunde bis Hamburg. Obwohl Hamburg von der Kleinstadt, in der ich wohnte, nur hundertdreißig Kilometer entfernt ist, war ich nur selten dort gewesen. Wenn ich mit meiner Mutter und meinen beiden älteren Brüdern mit dem Zug zu meinen Großeltern fuhr, stiegen wir am Hamburger Hauptbahnhof in den Schlafwagen nach München um. Dass mir Hamburg so weit weg vorkam, war die Schuld meines Vaters, für den jede Reise eine massive Gefährdung darstellte. Die Vorstellung, mit dem Auto nach Hamburg zu fahren, war für meinen Vater der blanke Horror. Er sprach über Hamburg wie über London oder Paris. Als er mich am Morgen zum Bahnhof gebracht hatte, waren wir wie immer viel zu früh da gewesen, und er hatte mich so verabschiedet, als würde ich schon gleich jetzt nach Amerika davonfahren, mich lange umarmt und mir alles Gute gewünscht.
    Jetzt, zwischen Rendsburg und Neumünster, verstand ich, warum mein Vater so bewegt war. Diese Hamburgreise, dachte ich, ist tatsächlich mehr als nur ein Ausflug. Sie ist vielleicht der Beginn der großen Reise, die ich vorhabe. Ich musste gar nicht einatmen, so sehr wehte mir die frische Luft durch das Fenster direkt in die Lungen hinein. Ja, diese Reise, dachte ich weiter, ist vielleicht die erste Etappe auf meinem weiten Weg nach Amerika. Ich werde alles zurücklassen. Meine Brüder, meine Eltern, unseren Hund. Meine Freundin. Meine Freunde, mein Zimmer, die Kleinstadt. Das alles könnte nun wirklich bald hinter mir liegen! War dieser Tag vielleicht sogar der wichtigste meines Lebens? Ich überlegte. Hatte ich überhaupt schon wichtige Tage erlebt? Einzelne aus der Masse der Tage herausragende, wegweisende Tage, nach denen alles anders war als davor? Mir fiel kein solcher Tag ein. Vor einem halben Jahr hatte mich meine erste Freundin verlassen. Sie fuhr auf dem Mofa davon, und ich war ihr ohne Schuhe auf Socken hinterhergerannt und hatte ein paar Mal gerufen: »Verlass mich nicht! Bitte, bitte nicht!« Aber wenn ich jetzt daran dachte, kam es mir wie eine Ewigkeit her vor. Schon wenige Wochen später hatte ich eine neue Freundin gefunden und war mit ihr sehr glücklich. Aber so glücklich nun auch wieder nicht, dass ich nicht nach Amerika wollte. Und so beschloss ich, dass dies der wichtigste Tag meines bisher, wie ich fand, durchaus schönen, aber doch auch faden Lebens werden könnte.
    Immer noch wehte der Wind herein und zerrte und riss am Vorhang. Die Tür klapperte, und das Rattern des Zuges klang hell und aufgeregt, wie ein unermüdlich vorwärtstreibendes pochendes Herz. Da ergriff mich, ja überwältigte mich, eine Aufbruchstimmung wie noch nie. Eine Gier nach Neuem: neuen Orten, Gesichtern, ach egal, Hauptsache anders, als es war!
    Ich stand auf, beugte mich aus dem Fenster und hielt mein Gesicht in den nach Gülle riechenden Wind. Nachdem mein Vater vor Wochen gesagt hatte, er würde mir gerne den Aufenthalt finanzieren, könne es aber nicht, da mein ältester Bruder bereits in München studierte und mein mittlerer Bruder in wenigen Wochen sein Studium in Gießen beginnen würde, rief ich meine Großeltern an und bat sie um Hilfe. Sie erklärten sich bereit, mir das Geld zu geben. Es gab noch irgendeine Abmachung, dass ich einen Teil davon später einmal wieder zurückzahlen solle. Doch davon war dann nie mehr die Rede gewesen. Jetzt, da das Finanzielle geklärt war, unterstützten mich meine Eltern, und doch, sie waren auch traurig, dass dann keines ihrer Kinder mehr bei ihnen sein würde.
    In Neumünster kam eine Frau zu mir ins Abteil: strähnige Haare, hohlwangig, abgemagert, nur mit einer hautengen

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