Allein unter 1,3 Milliarden: Eine chinesische Reise von Shanghai bis Kathmandu
Bauwerk, das was taugt in China. Und das ist dieses hier.» Ich habe vergessen zu erwähnen, dass Peter auch ein bisschen größenwahnsinnig ist, aber nur so kann man es hierzulande zu etwas bringen.
Am nächsten Morgen weckt mich Klavierspiel. Im Nachbarhaus übt jemand Tonleitern. Ich kann das Klavier hören, weil es sonst in der Gasse absolut ruhig ist. Das ist ungewöhnlich in einer chinesischen Großstadt, und ich kann im ersten Moment nicht glauben, dass ich immer noch in China bin. Auch der Inhalt von Freds Kühlschrank ist sehr unchinesisch: Hier stehen je ein Glas «Kühne milde Chili Schoten» und «Rote Bete». Nicht gerade mein Lieblingsfrühstück.
Also gehe ich ins Coffee Bean. Der Laden ist bereits voller Laowai, wie die Chinesen uns Ausländer nennen. Wörtlich übersetzt heißt das «der Alte von draußen». Das soll respektvoll gemeint sein, steht in den Lehrbüchern. Manchmal bin ich mir da nicht so sicher. Ich muss mir nur mal das Publikum in diesem Laden ansehen. Ein Amerikaner in Shorts und Holzfällerhemd steht im Eingang und erklärt gerade jemandem per Handy, wo er ist: «Yes, Coffee Bean. A kind of Starbucks.» Dabei kratzt er sich am Sack. Seltsamerweise tun das Chinesen nie. Sie streichen sich öffentlich über den nackten Bauch, prokeln an ihren Füßen rum oder stochern sich zwischen den Zähnen, aber ihr Skrotum lassen sie in Ruhe. Weshalb das so ist, könnte die Wissenschaft bei Gelegenheit mal klären.
Ich frühstücke im Coffee Bean mit schlechtem Gewissen. Eigentlich sollte man, so denke ich, auf einer chinesischen Reise auch chinesisch frühstücken, aber davor schrecke ich noch zurück. Chinesisches Frühstück ist eine Herausforderung, selbst für mich, der ich sonst alle chinesischen Gerichte esse: Zu einem geschmacklosen Reisbrei, der mit Senfpickles oder dunklen Klumpen gewürzt wird, werden in Öl gebackene Teigwürste gereicht, die auf Chinesisch You Tiao heißen, Ölstangen, kaum verdauliche Salate und in Tee eingelegte, harte Eier. Kaffee gibt es keinen, meist auch keinen Tee, sondern nur süße Sojamilch, die zu allem Überfluss lauwarm ist.
Meine erste wirkliche Chinesischlektion dieser Reise gibt es dann ein Thunfischsandwich und einen Cappuccino später – in Freds Haus. Als ich dorthin zurückkehre, ist es voller Handwerker, zwischen denen Peter aufgeregt herumläuft, mit Wasserwaage und Zollstock. «Das angelieferte Gartentor», ruft er mir zur Begrüßung entgegen, «ist ein Riesenscheiß. Das Schloss sitzt nicht an der richtigen Stelle, der Feststeller fehlt, das Stahlblech ist miserabel verschweißt.» Auch das schmiedeeiserne Geländer für den Balkon im ersten Stock macht Probleme. Es ist zu klein und schief und wackelt. «Das könnt ihr gleich wieder mit nach Hause nehmen», sagt Peter, und sein chinesischer Freund Zip übersetzt. Der Handwerker dagegen glaubt, das Geländer sei noch zu retten. Er will hier ein bisschen was ändern, da ein bisschen was. «Dann passt das schon. Chabuduo’r.» Chabuduo’r heißt so viel wie ungefähr, in etwa. Es ist aber nicht bloß eine Vokabel, sondern eine ganze Weltanschauung: Nicht nur übertriebener Perfektionismus ist den Chinesen ein Gräuel, Perfektionismus überhaupt.
Genau betrachtet ist das eine sympathische Lebensphilosophie, die wohl mit dafür sorgt, dass die Chinesen so entspannt wirken. Doch einen Deutschen kann das dauernde «Passt schon» wahnsinnig machen, selbst wenn er, wie Peter, ein halber Ungar ist. Ihm stehen die Tränen der Wut in den Augen. «Von wegen ‹Chabuduo’r›. Ihr nehmt das wieder mit.» Wortlos lassen der Handwerksmeister und seine Gehilfen das Geländer vom Balkon herunter und schweißen es im Garten auseinander. Auch das Gartentor wird eingepackt. Dann verabschieden sie sich ohne weiteren Widerspruch. Ich staune: Da haben sie mindestens zwei Tage umsonst gearbeitet, aber keiner zetert, jammert oder protestiert. Verdammt, so gelassen wäre ich auch gerne.
Probeweise fange ich gleich mal an mit der Gelassenheit: Eigentlich wollte ich mich gleich nach meiner Ankunft darum kümmern, wie ich weiterkomme, doch jetzt sage ich mir: Es muss ja nicht sofort losgehen. Außerdem hat mich Peter für heute Abend eingeladen. Eine Bekannte von ihm stellt ein Buch vor, und ich soll unbedingt dabei sein. Peters Argument: «Du schreibst doch auch.» Dagegen kann ich schlecht was sagen. Außerdem findet die Lesung im M on the Bund statt, dem Treffpunkt der Reichen und der Mittelreichen an
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