Allen, Louise - Ballsaison in London (H218)
Zierband.
Durch das so alltägliche Ritual des Ankleidens gefestigt und nun eine respektable Erscheinung, wagte Talitha sich schließlich auf den Stiegenabsatz hinaus und lugte über den Handlauf. In der Diele unterhalb erspähte sie die Hüte von vier Herren, eine Anzahl Schultern in gut sitzenden Röcken sowie die beiden unbedeckten Köpfe von Mr Harland und Peter, der beim Abschied der Besucher seinen struppigen grauen Schopf aus seiner Tür hinausstreckte.
Der letzte der Männer blieb noch einmal stehen, und Talitha konnte deutlich die unterkühlte Stimme des Mannes hören, den die anderen mit Nick angesprochen hatten, des Mannes, der ihr Versteck gefunden und sie beschützt hatte. „Guten Tag, Mr Harland. Ich hoffe, wir haben in Ihrem Haushalt niemanden zu sehr durcheinandergebracht.“ Die Stimme klang nicht übermäßig besorgt, doch Talitha hatte den starken Eindruck, dass ihr Besitzer das Benehmen seiner Gefährten mit ausgesuchtem Missfallen betrachtete.
„Danke“, flüsterte sie unhörbar. Sie fühlte sich, als hätte er ihr das Leben gerettet, sie in letzter Sekunde aus einem brennenden Gebäude geborgen.
Auch an ihm war die ganze Angelegenheit nicht spurlos vorübergegangen, dessen war sie sicher. Dieser Mann war kein Frederick Harland, vollkommen gleichgültig der weiblichen Anatomie gegenüber. Das plötzliche, scharfe Atemholen bei ihrem Anblick sowie seine anschließende absolute Reglosigkeit sagten ihr dies. Die Erinnerung daran, wie er ihren Geruch eingeatmet hatte, fuhr als verstörend sinnliches Vergnügen durch ihren Körper.
In Gedanken malte sie sich die grässliche Szene aus, die unausweichlich gefolgt wäre, wäre einer seiner Gefährten statt seiner dort gewesen. Sofort verbannte sie diese Vorstellung als entschieden zu furchtbar, um im Moment darüber nachdenken zu können. Sie musste nach Hause, in die Sicherheit ihrer eigenen vier Wände. Sie sehnte sich danach, eine Tasse Tee in Händen zu halten und sich in beruhigender weiblicher Gesellschaft zu befinden.
Auf dem Treppenabsatz erschien Frederick Harland. Überrascht blickte er auf, als er Talitha vollständig angezogen vor sich stehen sah. „Sie gehen schon, Miss Grey?“
Talitha kannte ihn viel zu gut, als dass sie sich darüber wunderte, dass er die Gefahr, in der sie geschwebt hatte, augenscheinlich bereits vergessen hatte. „Es wird bereits dunkel, Mr Harland“, erwiderte sie daher nur. Mit einem verzweifelten Ausruf stieg er die letzten Stufen zum Atelier empor.
Seufzend folgte Talitha ihm hinauf. „Hatten die Herren einen interessanten Auftrag für Sie?“ Sie benötigte das Geld für ihre Sitzung. Obschon er sich niemals ausweichend verhielt, wenn sie nachfragte, oder mit ihr diskutierte, wenn sie ihm vorrechnete, wie viel er ihr schuldete, hatte der Künstler offensichtlich den Eindruck, Geld wäre für sie von ebenso wenig Interesse wie für ihn selbst. Sie musste ihn stets erinnern.
„Kaum. Das Porträt einer angesehenen Witwe, Lady Agatha Mornington. Ihr Neffe, Mr Hemsley, zahlt dafür. Zweifelsohne sieht er dies als eine Investition an“, fügte Harland plötzlich hinzu, und Talitha wunderte sich über seinen Anfall von Klarsichtigkeit, was die Menschen um ihn herum betraf.
„Wie das?“, fragte sie, während sie ihre Handschuhe überstreifte. Porträts von Mr Harland waren nicht gerade billig.
„Er selbst ist nicht sehr gut betucht, aber ich habe aus verlässlicher Quelle vernommen, dass er ein Darlehen auf das Ableben seiner Tante aufgenommen hat. Zweifellos investiert er in ein Porträt, um sie ihm gewogen zu halten, damit sie ihr Testament nicht ändert.“ Er bemerkte, dass Talitha ihre Geldbörse in der Hand hielt, und sein eigenes Gerede über Geld versetzte seiner Erinnerung einen Schubs. „Und wie viel schulde ich Ihnen, Miss Grey?“
„Zwei Guineen, bitte, Sir. Für die eine Sitzung heute und die drei in der letzten Woche, wenn Sie sich erinnern möchten.“ Er zählte ihr den Betrag ab. Lächelnd nahm sie die Münzen entgegen und bedankte sich. „Denken Sie, Lady Agatha weiß, dass er auf ihren Tod ein Darlehen aufgenommen hat? Wäre sie nicht recht verärgert, wenn sie wüsste, dass er sich auf diese Art Geld borgt?“
„Sie würde ihn aus ihrem Testament ausschließen, denke ich“, erwiderte der Künstler. Mit konzentriert gefurchter Stirn begann er, seine Palette zu säubern. „Durch und durch ein Lebemann. Wenn ihm das Glück nicht
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