Allen, Louise - Ballsaison in London (H218)
bald hold ist, wird er sich ziemlich zurückhalten müssen, um seinen Gläubigern zu entgehen.“
„Wie schrecklich, dass jemand den Tod eines Verwandten als glücklichen Umstand zu sehen imstande ist“, bemerkte Talitha und dachte dabei, dass sie schon eine einzige Verwandte, und sei es nur eine herrische Witwe, als durchaus bereichernd empfinden würde. „Wer waren die anderen Herren?“
„Was? Geben Sie mir doch bitte den Lappen dort, seien Sie so nett. Oh, Lord Harperley und der junge Lord Parry.“ Talitha verbiss sich einen erschrockenen Aufschrei. Sie war mit Lord Parrys Mutter bekannt, und es lag sogar im Bereich des Möglichen, dass seine Lordschaft sie wiedererkennen würde, denn er hatte sie bereits ein- oder zweimal gesehen. Sie schluckte und konzentrierte sich auf Mr Harlands nächste Worte. „Den stillen Gentleman kannte ich nicht. Er könnte aus Übersee gekommen sein, seine Haut war leicht gebräunt.“
Talitha musste innerlich lächeln – so etwas wie Hautfarben und Kontraste fielen dem sonst eher unaufmerksamen Mr Harland in jedem Fall auf. „Ein sehr gutaussehender junger Mann“, fügte er leidenschaftslos hinzu. „Ich frage mich, ob er für mich als Alexander Modell sitzen würde.“
Mit einem letzten Lächeln verabschiedete Talitha sich, schlüpfte hinaus und verschwand nach unten. Sie überließ Mr Harland seinem Selbstgespräch und den Überlegungen, ob ein Mitglied der besseren Gesellschaft nackt und mit einem Schwert in der Hand für ihn Modell sitzen würde. Als sie auf die Straße hinaustrat, ertappte sie sich dabei, wie auch sie über dieses Bild nachdachte; ein höchst verwirrender Gedanke. Geh nach Hause und koch dir einen Tee, Talitha, rief sie sich zur Ordnung. Und dann solltest du dir in Ruhe ein paar Gedanken machen zum Thema Beinahe-Katastrophen.
2. KAPITEL
D er Weg zurück in die Upper Wimpole Street, in der Talitha wohnte, war recht weit, doch selbst mit zwei Guineen in der Tasche geriet sie nicht in Versuchung, eine Droschke zu nehmen. Während sie raschen Schrittes voraneilte, bemühte sie sich, die beängstigenden Ereignisse des Nachmittages aus ihren Gedanken zu verbannen, indem sie über ihre finanzielle Situation nachdachte. Es gelang ihr lediglich, sich dadurch noch niedergeschlagener zu fühlen als zuvor.
Unvermittelt hatten Talitha Grey und ihre Mutter sich in der Situation wiedergefunden, ihr Leben in ärmlicher Bescheidenheit zu verbringen, nachdem ihr Vater vor fünf Jahren plötzlich gestorben war. James Grey hatte ihnen nichts hinterlassen als eine alarmierende Anzahl Schuldscheine sowie ein paar undurchsichtige Investitionen, die das Papier nicht wert waren, auf dem sie gedruckt waren. Mit Mrs Greys karger jährlicher Rente und Talithas hundert Pfund im Jahr gelang es ihnen mehr schlecht als recht, sich durchzuschlagen. Für ein Debüt reichte es jedoch beileibe nicht, so bescheiden es auch ausgefallen wäre. Ihre Mutter verfiel schließlich immer mehr dem Trübsinn.
Als sie ihrem Gatten drei Jahre später ins Grab folgte, musste Talitha feststellen, dass mit dem Tod ihrer Mutter auch deren jährliche Rente nicht mehr ausgezahlt wurde. Nun sah sie sich den sehr begrenzten Möglichkeiten gegenüber, die einer wohlerzogenen jungen Frau mit wenig Geld und weder Freunden noch Verbindungen offenstanden.
Eine respektable eheliche Verbindung kam ohne Mitgift oder einen Gönner nicht infrage. Augenscheinlich blieb ihr nur die Wahl zwischen Gesellschaftsdame oder Gouvernante. Keines von beidem behagte ihr sonderlich: Etwas hinter Talithas ruhiger, reservierter Oberfläche sträubte bei dem Gedanken, noch mehr Zeit damit zu verbringen, sich einer anderen Person zu jeder Tages- und Nachtzeit zur Verfügung halten zu müssen – vollkommen abgeschnitten von jedweder selbstständigen Handlung oder eigenen Gedanken. Sie hatte ihre Mutter geliebt und sich niemals gegen die Tatsache aufgelehnt, dass sich ihr gesamtes Leben seit dem Tod ihres Vaters nur um sie gedreht hatte. Den Rest dieses Lebens auf dieselbe Art und Weise entschwinden zu sehen, hatte sie jedoch nicht vor, zumal sie mit ihren zukünftigen Auftraggeberinnen keinerlei Blutsbande oder auch nur Freundschaft verbinden würde.
Also hatte Talitha vor ihrem geistigen Auge Revue passieren lassen, was sie konnte. Augenscheinlich besaß sie lediglich recht geschickte Finger und einen guten Geschmack in Modefragen. Angetan mit ihrer letzten guten Garderobe war sie
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