Aller Heiligen Fluch
«Meistens haut sie ihnen nur Bauklötze auf den Kopf.» Trotzdem hat sie sich schließlich überzeugen lassen. Und etwas in ihr glaubt tatsächlich, dass es ein schöner Anlass werden könnte, eine seltene Gelegenheit, sich einfach zurückzulehnen, Kate zuzuschauen, wie sie Geschenkpapier zerreißt und sich mit ungesunden Zusatzstoffen vollstopft, und dabei zu denken: Eigentlich habe ich das mit dem Muttersein doch gar nicht so schlecht hingekriegt.
Während sie an den Getränkeregalen vorbeirennt, fällt Ruth zum ersten Mal auf, dass der ganze Supermarkt den Mächten der Finsternis anheimgefallen ist. Hexenbesen und -kessel machen Plastikkürbissen und Vampirgebissen, die im Dunkeln leuchten, den Regalplatz streitig. Von der Decke hängen Fledermäuse, und als Ruth um die letzte Ecke biegt, findet sie sich plötzlich Auge in Auge mit einer lebensgroßen Gestalt mit Hexenumhang, Hexenhut und einer Maske, die (recht überzeugend, das muss man ihr lassen) auf Edvard Munchs
Schrei
basiert. Ruth unterdrückt ihrerseits einen Schrei. Natürlich, es ist ja Halloween. Kate hat es um Haaresbreite vermieden, am 31 . Oktober zur Welt zu kommen, was, nachdem sie bereits einen heidnischen Patenonkel hat, auch wirklich ein Omen zu viel gewesen wäre. Stattdessen ist Ruths Tochter am 1 . November geboren, an Allerheiligen, wie der katholische Priester sagen würde, den Ruth zu ihrem eigenen anhaltenden Erstaunen gewissermaßen als Freund betrachtet. Sie selbst glaubt weder an Gott noch an den Teufel, aber es kann sicher nicht schaden, überlegt sie sich, während sie ihre Einkäufe auf das Kassenband türmt, den einen oder anderen Heiligen auf seiner Seite zu haben. Komisch, dass der Tag der Heiligen direkt auf den Tag der Toten folgt. Oder vielleicht auch nicht. Im Grunde sind Heilige ja nichts anderes als Tote. Und Ruth weiß selbst nur zu gut, wie schmal der Grat zwischen Heiligen und Frevlern oft sein kann.
Sie lädt die Einkäufe in ihr treues, klappriges Auto. Zwei Uhr. Um drei muss sie im Museum sein, es bleibt also keine Zeit, vorher noch heimzufahren. Hoffentlich schmelzen die Schokokekse nicht im Kofferraum. Aber es ist ja nicht heiß heute, wenn auch sehr mild für Oktober. Ruth trägt eine schwarze Hose und einen schwarzen Blazer. Dazu schlingt sie sich noch einen langen grünen Schal um den Hals und vertraut auf ihr Schicksal. Natürlich werden im Museum auch Fotografen sein, aber wenn sie Glück hat, kann sie sich vielleicht hinter Superintendent Whitcliffe verstecken. Unter normalen Umständen hätte sie gar keine Chance gehabt, zu einer solchen Veranstaltung zu gehen. Phil, ihr Chef, liebt das Rampenlicht und ist jedes Mal ganz vorne mit dabei, wenn sich irgendwo die Presse ankündigt. Vor zwei Jahren, als die Sendung
Time Team
von einer römischen Ausgrabungsstätte in der Nähe berichtete, hat Phil sich vor jede Kamera gedrängelt, während Ruth im Graben hocken blieb. «Das war unfair», kommentierte Shona, die zwar mit Phil liiert, sich aber seiner Fehler durchaus bewusst ist. «Schließlich warst du doch die Expertin, nicht er.» Aber Ruth hat es nicht weiter gestört. Sie steht nicht gern im Mittelpunkt; sie forscht lieber, hält sich im Hintergrund und sichtet sorgfältig die Beweise. Außerdem sieht man vor der Kamera angeblich drei Kilo schwerer aus, und darauf kann Ruth mit ihren fast 82 Kilo nun wirklich verzichten.
Doch jetzt ist Phil bei einer Konferenz, und deshalb muss Ruth der feierlichen Sargöffnung beiwohnen. Sonst würde sie so etwas meiden wie der Teufel das Weihwasser. Sie mag keine öffentlichen Auftritte und hat ein ausgesprochen ungutes Gefühl dabei, zur besten Sendezeit live im Fernsehen (nun ja, im Regionalfernsehen) einen Sarg zu öffnen. Wie hat Erik immer gesagt? «Hüte dich davor, die Ruhe der Toten zu stören.» Erik Anderssen, Erik der Wikinger, Ruths Doktorvater an der Universität und noch Jahre später ihr Mentor und großes Vorbild. Inzwischen sind ihre Gefühle für Erik deutlich ambivalenter, doch das hindert sie nicht daran, in erschreckend regelmäßigen Abständen seine Stimme im Ohr zu haben. Für Archäologen gehört es natürlich zum Berufsrisiko, die Ruhe der Toten zu stören, aber Ruth legt großen Wert darauf, Knochen immer mit Respekt zu behandeln, ganz gleich, wie lange sie schon tot sind. Einen albtraumhaften Sommer lang hat sie Kriegsgräber in Bosnien untersucht, Stätten, an denen die häufig nur wenige Monate zuvor getöteten Leichen einfach in Gruben
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