Aller Heiligen Fluch
der ihr Interesse für die Archäologie geweckt hat: Es gab dort nämlich eine Sammlung von Werkzeugen aus Feuerstein, darunter auch einige aus Grimes Graves in Norfolk. Sie erinnert sich, wie erschüttert sie war, als ihr klarwurde, dass diese merkwürdig geformten Steinstücke tatsächlich einmal von jemandem verwendet worden waren, einem Menschen, der vor mehreren tausend Jahren gelebt hat. Der Gedanke, dass man tatsächlich hingehen und etwas ausgraben konnte, was so alt war, dass dieses rätselhafte Geschöpf namens Steinzeitmensch es hergestellt und zurechtgeklopft hatte – dieser Gedanke verursacht ihr bis heute Gänsehaut und hat ihr über zahllose langwierige und erfolglose Ausgrabungen hinweggeholfen. Da ist immer die Hoffnung, unter dem nächsten Erdklumpen könnte es sich finden, das Objekt – verwittert und nur für die Augen der Expertin erkennbar –, das das Denken der Menschheit auf immer verändern wird. Ruth kann selbst ein paar glückliche Funde für sich verzeichnen. Und doch ist da immer die verlockende Vorstellung von der einen, der ganz großen Entdeckung, von der Tafel neben der Glasvitrine: «Entdeckt von Doktor Ruth Galloway», von den Artikeln, den Büchern … Sie steht vor dem Museum.
Das Horniman-Museum ist klein und doch auf seine Weise eindrucksvoll, mit einem Uhrenturm vor und einem gläsernen Treibhaus hinter dem Gebäude. Das Smith-Museum jedoch ist ganz anders, ein niedriger Backsteinbau, eingezwängt zwischen zwei Bürohäusern. Das vorstehende mattrote Giebeldach sieht aus, als hätte sich das Haus einen Hut tief in die Stirn gezogen. Ein paar Stufen führen zu einer rot gestrichenen Tür hinauf, an der ein vielversprechendes Schild den Besucher «Willkommen!» heißt. Ruth öffnet die Tür und findet sich in einer kleinen Eingangshalle wieder, die von einem ausgestopften Vogel im Käfig und dem Porträt eines sichtlich missgelaunten Herrn mit Perücke dominiert wird. An einer Pinnwand hängen ein paar vergilbte Prospekte, und auf einem Tisch liegt ein Stapel Kopien nebst dem vielleicht etwas optimistischen Hinweis «Für Schulklassen». Doch nichts weist darauf hin, dass hier demnächst ein Medienereignis stattfinden soll. Keine Häppchen, kein Wein (dabei erinnert sich Ruth genau, dass von «Bewirtung» die Rede war), keine Pressemappen, noch nicht einmal ein Plakat, das die große Eröffnung des Bischofssargs ankündigt. Der halbvergilbte Kronleuchter an der Decke klirrt noch leise im Luftzug, den Ruth mit sich hereingebracht hat. Sonst ist es völlig still.
Ruth tritt durch die Schwingtür und steht in einem langgezogenen Saal, der zu beiden Seiten bis an die Decke mit Glasvitrinen bestückt ist. Fenster gibt es nicht, und die einzige Beleuchtung kommt von den Vitrinen, die in einem schaurigen Phosphorlicht erstrahlen. Ruth bleibt vor einem Schaukasten stehen. «Uhu», erklärt das Hinweisschild, und drinnen sitzt ein großer ausgestopfter Vogel, der Ruth vorwurfsvoll mustert. Rasch geht sie weiter, wird aber das Gefühl nicht los, dass der Blick des Uhus ihr weiterhin folgt. Die nächste Vitrine, «Mantelmöwen», zeigt einen Möwenschwarm, der gerade über ein Lamm herfällt. Die Schnäbel der Vögel sind mit künstlichem Blut beschmiert, und das Lamm blickt mit resigniert-zynischer Miene zu ihnen empor. Ein paar Meter weiter steht man plötzlich mitten im Wald: Verstaubte Füchse spähen in braun ausgemalte Erdlöcher, Eichhörnchen sind an Baumstämmen befestigt, Dachse mustern mit glasigem Blick mottenstichige Kaninchen, und an einem Pappfelsen lehnt ein dreibeiniges Reh. Unwillkürlich geht Ruth immer schneller. Fell und Federn fließen ineinander, ihre Schritte hallen auf den Bodenfliesen.
Sie geht quer durch den Saal, um in die Vitrinen auf der anderen Seite zu schauen. Hier weicht die Taxidermie dem Halloween-Feeling. Die Tiere auf dieser Seite sind nur Skelette, ihre zarten Knochen hängen wie Mobiles vor blau gestrichenen Wänden, die den Himmel darstellen, weiße Wölkchen und V-förmige Vogelschwärme inbegriffen. Die Große Otterspitzmaus, die Zwergspitzmaus, der Riesengoldmull, der Westeuropäische Igel. Sie sehen alle gleich und ziemlich traurig aus, wie sie da neben ihren kleinen getippten Namensschildern hängen. Die größte Vitrine beherbergt ein Skelett, das sich im Vergleich zu den anderen gewaltig ausnimmt. Ruth ist erstaunt, dass es sich dem Schild zufolge nur um ein Hauspferd handelt. Der längliche Schädel mit seinen großen Zähnen
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