Aller Heiligen Fluch
geworfen worden waren, um in der Sonne zu verwesen. Sie hat die Leiche eines kleinen Mädchens ausgegraben, das vor mehr als zweitausend Jahren, in der Eisenzeit, gestorben war und um dessen gut erhaltenes Handgelenk noch ein aus Gras geflochtenes Armband lag. Sie hat römische Leichen unter Hausmauern entdeckt, Opfergaben an Janus, den zweigesichtigen Gott, und sie hat die Skelette von Soldaten freigelegt, deren Ermordung erst siebzig Jahre zurücklag. Aber nie hat sie sich gestattet zu vergessen, dass sie es mit Menschen zu tun hatte, die einmal gelebt haben, einmal geliebt wurden. Ruth glaubt nicht an ein Jenseits, und umso wichtiger ist es ihrer Ansicht nach, menschlichen Überresten im Diesseits Respekt entgegenzubringen. Sie sind schließlich alles, was bleibt.
Der Holzsarg, in dem man den Bischof Augustine Smith vermutet, kam bei den Bauarbeiten für einen neuen Supermarkt in King’s Lynn zum Vorschein. Auf dem Grundstück, einem seit Jahren vernachlässigten Industriegelände, hatte früher einmal eine Kirche gestanden. Das Gotteshaus, das den recht romantischen Namen St. Mary Outside the Walls trug, war im Zweiten Weltkrieg zerbombt worden, und in den Fünfzigern hatte man es ganz abgerissen, um Platz für eine Fischkonservenfabrik zu schaffen. Auch die Fabrik verfiel schließlich, und nun wird dort ein nagelneuer Supermarkt gebaut. Da es sich aber um ein historisches Grundstück handelt, mussten die Bauarbeiter zunächst die Feldarchäologen hinzuziehen, und die haben erwartungsgemäß die Grundmauern einer mittelalterlichen Kirche entdeckt. Durchaus nicht erwartungsgemäß war allerdings der weitere Fund unter dem einstigen Hochaltar: ein Sarg, der aller Vermutung nach die sterblichen Überreste besagten Bischofs aus dem 14 . Jahrhundert enthält.
Die Entdeckung war gleich aus mehreren Gründen spektakulär: Die Kirche ist im Domesday Book verzeichnet, und Bischof Augustine spielt seinerseits eine große Rolle in einer Chronik aus dem 14 . Jahrhundert, die in der Kathedrale von Norwich aufbewahrt wird. Eigentlich war man immer davon ausgegangen, Augustine, einer der ersten Bischöfe überhaupt, liege dort in der Kathedrale beerdigt. Was hatte er also unter einer relativ unbedeutenden Gemeindekirche in King’s Lynn verloren? Doch sowohl die Inschrift auf dem Sarg als auch die Datierung des Holzes weisen eindeutig auf Augustine hin. Der nächste Schritt wäre eine Radiokarbondatierung der Knochen, und irgendwann wurde beschlossen, den Sargdeckel öffentlich zu lüften – vor den Augen der versammelten Lokalprominenz, darunter auch einiger Mitglieder der Familie Smith.
Und das ist der andere Grund. Die Familie Smith ist immer noch wohlauf und bester Dinge und in Norfolk ansässig. Im Lauf der Jahrhunderte hat sie katholische Märtyrer und protestantische Verräter hervorgebracht, sie wurde von Elisabeth I . geadelt und unternahm den glücklosen Versuch, King’s Lynn im Bürgerkrieg für die Königstreuen zu halten. Lord Danforth Smith, der derzeitige Träger des Titels, trainiert Rennpferde und ist, wenn auch nicht ganz freiwillig, eine örtliche Berühmtheit. Sein Sohn Randolph, der sich nie ohne eine amerikanische Schauspielerin oder einen russischen Tennisstar im Arm sehen lässt, geht deutlich entspannter mit der öffentlichen Aufmerksamkeit um und macht regelmäßig die Klatschspalten unsicher. Die Smiths früherer Zeiten waren da schon von ernsthafterer Gesinnung, überall in Norfolk finden sich sichtbare Zeichen ihrer Nächstenliebe. Neben dem Museum gibt es einen Smith-Flügel im Krankenhaus sowie die Sammlung Smith oben auf der Burg. An Ruths Universität gibt es sogar eine Smith-Professur für Lokalgeschichte, deren Träger allerdings seit Jahren nicht mehr gesichtet wurde. Ruth hat den Verdacht, dass er längst verstorben ist.
Sie stellt ihre Rostlaube vor dem Museum ab. Der Parkplatz neben dem Gebäude ist völlig leer. Ruth ist früh dran; es ist erst Viertel nach zwei, doch die Zeit reicht trotzdem nicht, um nach Hause und wieder zurück zu fahren. Da kann sie auch ins Museum gehen und sich dort noch ein bisschen umschauen. Ruth liebt Museen – zum Glück, denn als Archäologin verbringt sie mehr als genug Zeit damit, in verstaubte Glasvitrinen zu schauen. Sie weiß noch, wie sie als Kind das Horniman-Museum in Forest Hill besucht hat. Das war ein magischer Ort voller Masken und ausgestopfter Vögel. Wenn sie es recht bedenkt, war das Horniman-Museum wahrscheinlich sogar der Ort,
Weitere Kostenlose Bücher