Der Bilderwächter (German Edition)
Jedes Mal, wenn er den Raum betrat, schauderte es ihn. Er zog die Schultern zusammen, blieb stehen und holte tief Luft, bevor er die schwere Stahltür hinter sich zuzog und sich dem zuwandte, was ihn hier erwartete.
Bilder, wohin man blickte. Alle von demselben Künstler gemalt.
Ruben Helmbach. Superstar.
Jeder kannte seinen Namen. Hatte von seinem grauenhaften Tod gehört. Viele hätten ihren rechten Arm dafür hergegeben, auch nur ein einziges Bild von ihm zu besitzen.
Ruben Helmbach.
Noch so jung, und er hatte die Kunstszene gerockt. Die Leute hatten ihm seine Werke aus den Händen gerissen. Sie hatten sein Atelier belagert und sich um die kleinsten Skizzen gebalgt.
Ruben Helmbach war Kult. Bereits zu Lebzeiten gewesen. Und niemand hatte das besser gewusst als er selbst.
Auf den Fotos, die es von ihm gab, schaute er hochmütig in die Kamera. Als wär der Rest der Menschheit nur dazu da, ihm die Füße zu küssen.
Und nun war er tot, und für die Bilder, die er hinterlassen hatte, war eigens ein Raum gebaut worden.
Ein Sarkophag seiner Werke.
Hier warteten sie seit der Tragödie vor zwei Jahren darauf, wieder zum Leben erweckt zu werden.
Das Gebäude befand sich auf dem weitläufigen Anwesen der Ritters, einer Fabrikantenfamilie, die im Laufe der Generationen einen ähnlichen Niedergang erlebt hatte wie die Buddenbrooks.
Nur die Schwestern Emilia und Hortense waren übrig geblieben, beide unverheiratet, beide Mitte siebzig und beide exaltiert, verwöhnt und verschroben.
Nach dem Tod ihrer Eltern hatten sie die Fabrik verkauft und ihr Vermögen dazu genutzt, Maler und Bildhauer zu entdecken und zu fördern.
Und dann begegneten sie Ruben Helmbach, der ihr Universum erschütterte.
Sie konzentrierten all ihre Kraft auf ihn.
Nahmen ihn unter ihre Fittiche.
Brachten ihn mit den richtigen Leuten zusammen.
Sahen ihn wie ein Feuerwerk am Himmel erstrahlen – und verglühen.
Sein Tod traf sie bis ins Mark. Sie zogen sich aus dem Geschäftsleben zurück, ließen das Gebäude für Ruben Helmbachs Nachlass auf ihrem Anwesen erbauen und ergaben sich dem Alter, das sie bis zu der Tragödie kaum zur Kenntnis genommen hatten.
Man erzählte sich, dass sie den Raum mit den Bildern nur ein einziges Mal betreten hätten. Nachdem alles fertiggestellt war. Danach hatten sie den Nachlassverwalter, den Ruben Helmbach in seinem Testament bestimmt hatte, seine Arbeit tun lassen.
Mit einem lauten, endgültigen Geräusch fiel die zweite Tür hinter ihm ins Schloss.
Noch einmal atmete er tief ein. Streifte die nassen Stiefel von den Füßen und schlüpfte in die bereitstehenden Überzieher.
Zögerte.
Immer wieder kostete ihn der erste Schritt Überwindung.
Er wusste nicht, weshalb.
Seine Aufgabe war es, dem Nachlassverwalter zuzuarbeiten. Den Nachlass zu sichten und zu katalogisieren.
Ihn darauf vorzubereiten, die Kunstwelt auf den Kopf zu stellen.
Doch das war es nicht, was ihm dieses seltsame Gefühl vermittelte, das er nicht benennen konnte: eine Art leiser Furcht, die sich in seinem Magen bemerkbar machte und ihm einen kalten Schweißfilm auf die Stirn legte.
Bilder.
Überall.
Und auf den meisten war dieselbe junge Frau zu erkennen.
Lachend.
Traurig.
Gedankenverloren.
Wie verzerrt und verfremdet ihr Äußeres auch sein mochte, man erkannte sie immer wieder.
Was ihn am meisten beschäftigte, war ihr Lachen.
Auf den älteren Bildern wirkte es glücklich und unbeschwert.
Doch dann schlich sich etwas ein, das er zunächst nicht einordnen konnte.
Bis er schließlich begriff:
Es war das Lachen eines Menschen, dem in Wirklichkeit zum Heulen zumute war.
Er rieb sich die Arme, obwohl der Raum gut temperiert war, um die Bilder zu schützen. Dann schaltete er das Licht an und tat den ersten Schritt.
Auf die Bilder zu.
*
Pünktlich wie die Maurer, dachte Emilia Ritter, obwohl sie in ihrem langen Leben oft die Erfahrung gemacht hatte, dass Maurer alles andere als pünktlich waren.
Für einen kurzen Moment verwirrte diese Erkenntnis sie, doch dann streifte sie die Irritation ab, wie alles, was sie aus dem Gleichgewicht zu bringen drohte.
Sie hatte sich immer auf ihr Gedächtnis verlassen können, auch wenn Hortense das Gegenteil behauptete. Hortense gönnte ihr das Schwarze unter dem Fingernagel nicht.
Es war ein Kreuz, mit einer solchen Schwester gestraft zu sein.
Emilia schüttelte den Kopf und ließ die Gardine, die sie beiseitegeschoben hatte, um auf Rubens Haus sehen zu können, wieder los.
Rubens
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