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Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Titel: Aller Tage Abend: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny Erpenbeck
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Innern Geschrei und Geheul dringt. Die Stimme seiner Frau ist es nicht, soviel ist sicher, und, wenn ihn nicht alles täuscht, auch nicht die seiner Schwiegermutter. Wer weint denn da um sein Kind? Die Tür geht auf, und eine, die er nicht kennt, läuft aus dem Haus, mit flachen Schuhen, den Mantel bis oben hin zugeknöpft, die Haare verhüllt, wischt sie sich im Gehen die Tränen aus dem Gesicht, sie hat den Mann auf der anderen Seite der Straße nicht bemerkt, und selbst wenn, hätte sie keine Ahnung, warum er da steht, noch bevor sie die nächste Ecke erreicht hat, wird ihr niemand mehr ansehen, dass sie geweint hat. Als sie abbiegt, kommt ihr ein Alter entgegen, nur knapp weicht er ihr aus, in den Händen trägt er eine Schüssel. Der Alte nickt der Frau zu, geht dann langsam weiter bis vor das Haus und drückt mit der Schulter die Tür auf, damit, was in der Schüssel ist, Suppe vielleicht, die er der Trauernden bringen will, nicht über den Rand läuft. Er, der Leidtragende ersten Grades, einen Steinwurf entfernt, sieht den gekrümmten Rücken des Alten und weiß, es ist Simon, der Kutscher aus dem jüdischen Viertel, der sonst Holzspäne, Bauschutt und Milch fährt, oft hat er ihn, auf dem Kutschbock sitzend, auch so von hinten gesehen. All die Leute hier scheinen zu wissen, was ihre Pflicht ist, nur er selbst fragt sich, was er soll. Seine Mutter, wenn sie noch lebte, würde mit ihm jetzt den Rosenkranz beten, er säße neben dem kleinen Sarg in der Stube und wäre der Vater des verstorbenen Kindes. Zeugt es von Feigheit, wenn man sein eigenes Leben verlässt, oder von Charakter, wenn man die Kraft hat, neu zu beginnen?
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    D ie Frage, ob das Kinderzimmer von nun an für immer verschlossen bleiben soll, stellt sich ihr nicht, denn es liegt auf der Hand, dass sie die Wohnung im Ganzen aufgeben muss. Die einzige Möglichkeit, die ihr bleibt, ist die, wieder zu ihrer Mutter zu ziehen. Hatte es ihr nicht gefallen, dass ihr Mann auch ohne das Einverständnis seiner Eltern sie, eine Jüdin, zur Frau nahm? Hatte ihr nicht gerade gefallen, dass seine Leidenschaft für sie ihn so hinriss, dass er seine Herkunft vergaß? Diesmal ist eben sie das, wovon es ihn fortreißt, nun lässt er sie ohne ihr Einverständnis allein. Sie weiß, seine Abwesenheit wird nur eben so groß sein, wie seine Liebe zu ihr und dem Kind, an der Linie des Todes spiegelt sich jetzt, im Grunde genommen, nur, was ihn an sie bindet.
    Mädelchen, du darfst nicht vergessen, dass er mit dir seine Schulden bezahlt hat.
    Mit mir hat er auch bezahlt, dass er nicht aufstieg: Ewig wär er für mich in der elften Gehaltsstufe geblieben.
    Ewig war’s aber nicht.
    Das liegt an dem Kind.
    Denkst du. Ihm war es vorher einfach nicht klar, dass er sich mit der Heirat selbst keinen Gefallen getan hat.
    Ach, und das soll mir ein Trost sein?
    Ja.
    Jetzt willst du mir also auch noch die Zeit, in der ich glücklich war, nehmen.
    Ich meine nur, du hast gar nicht so viel besessen, wie du jetzt glaubst zu verlieren.
    Du meinst wohl, wenn ich das so sehen könnte, wäre mir leichter zumute?
    Ich hoffe.
    Dann würde ich einfach wieder die Schürze nehmen und mich daran erinnern, wie viel ein Hering wiegt im Vergleich zu drei Äpfeln.
    Bei Hering und Äpfeln weiß man zumindest, woran man ist.
    Da merkt man, dass es schon lange her ist, dass du geliebt hast.
    Du weißt, dass du jetzt ungerecht bist.
    Ich will nicht mehr reden.
    Immer hatte sie sich gedacht, bei der Vereinigung zweier Menschen gehe es darum, eine Grenze zu überschreiten, die man mit niemandem sonst überschritt, die Welt hinter sich zu lassen und von da an miteinander alles zu teilen. Jetzt sieht sie, dass die Grenze beweglich ist und sich in solchen Zeiten, wie es zum Beispiel diese jetzt ist, verschiebt. Unmerklich ist die Grenze nach innen gerutscht und trennt ihn jetzt wieder von ihr. Vorher ist sie seine Freiheit gewesen, jetzt sucht er sich seine Freiheit woanders.
    8
    W enn er nur wüsste, wo er den Tod finden kann, einen leichten wünscht er sich, nun, nachdem er schon so lange liegt und auf ihn gewartet hat. So leicht wie ein Kuss. So leicht, wie man ein Haar aus der Milch zieht. Eine Nachbarin hat ihm, ohne dass er darum gebeten hätte, erzählt, dass der Säugling erstickt sei. Ersticken, so steht es im Talmud, sei der härteste unter den neunhundertunddrei Toden. Ersticken ist wie ein Dornenstrauch, der sich in Wolle verfangen hat, den man mit aller Gewalt herausreißt und hinter sich wirft.

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