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Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Aller Tage Abend: Roman (German Edition)

Titel: Aller Tage Abend: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenny Erpenbeck
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sie angeht, kann sie, solange Besuch da ist, nicht weinen, am dritten Tag ist sie schon sehr müde davon, dass die andern an ihr die heilige Pflicht des Beistands erfüllen, sie weiß nicht, wie sie es aushalten soll, dass der Tod ihres Kindes nicht aufhört und von jetzt an nie mehr aufhören wird und sich nie mehr vermindern, aber darüber spricht sie mit keinem von den Besuchern. Am Abend des dritten Tages weiß sie, dass der Mann, wenn er bis jetzt nicht wiedergekehrt ist, auch nicht wiederkehren wird. Sie fragt ihre Mutter, wie das sei, so – ohne Mann. Die Mutter sagt: Schwer. Eine Freundin sagt: Du wirst sehen, spätestens morgen ist er wieder da, er hat sich bestimmt nur betrunken. Die Großmutter setzt sich zu ihr und singt ihr ein Kinderlied vor. Ist jetzt schon die Zeit, in der sie eine erwachsene Frau war, vorüber? Kehrt die Zeit, wenn sie den Weg nach vorn verfehlt hat, einfach um und geht wieder rückwärts? Am vierten Tag ist ihre eigene Trauer ihr fremd, und sie denkt sich, dass es vielleicht gar keinen Unterschied macht, ob ein Wesen vor oder hinter der Grenze ist. Am fünften Tag sagt die Mutter, wir müssen jetzt überlegen, was wird. Am sechsten Tag schlägt die Standuhr mit hellem, blechernem Klang all die Stunden, die so ein Tag hat. Wäre es jetzt vielleicht doch an der Zeit, den Vater, wenn er sich nicht erhängt haben sollte, zu suchen? Am Morgen des siebenten Tages hilft die Mutter ihr auf und führt sie zum Tisch in der Küche. Erst, als die Tochter sich dort hingesetzt hat, sagt sie zu ihr: Wir müssen jetzt sparen. An diesem siebenten Tag fällt der Tochter zum ersten Mal auf, dass sie selbst eben auch eine Tochter ist, eine sogar am Leben gebliebene Tochter, deren Leben erst jetzt, mit einer kleinen Verspätung von siebzehn Jahren, misslingt. Wann sich herausstellt, dass ein Wunsch nicht erfüllt wird, kann niemand vorhersehen. Ihre Mutter setzt sich zu ihr, nimmt ihre Hände und sagt: Deinen Vater haben die Polen erschlagen.
    6
    E r weiß jetzt, wo er die Agentur finden kann, der Glatzköpfige hat ihm die Adresse gegeben. Als er auf die Straße tritt, muss er daran denken, dass auch einem seiner Kollegen das erste Kind früh gestorben ist. Kurz nach dem Tod dieses Kindes hatte der Kollege ihn einmal gefragt, ob er das Grab sehen wolle. Ja, hatte er, obgleich er es eigentlich nicht hatte sehen wollen, gesagt, und so waren sie eines Mittags über den Friedhof spaziert. Links an der Mauer zeigte ihm der Kollege auf einer eisernen Tafel den Namen des Kindes, den Grabhügel davor und die Einfassung aus Stein mit dem kleinen Geländer. Nicht einmal anderthalb Jahre später war dieser Kollege abermals Vater geworden, dem Neugeborenen wurde bei seiner Taufe der Rufname des verstorbenen Kindes als zweiter Name verliehen. Er tritt in die Bank ein, um den für die Reise notwendigen Betrag abzuheben. Die 20 Dollar, die er, wie der Glatzkopf ihm gesagt hat, für die Einreise braucht, bekommt er in der Wechselstube nebenan. Ihm fällt ein, wie seine Frau immer gelacht hat, wenn er ihr vorspielte, wie sie beim Schlafen aussah. Wieder und wieder hatten sie über die gleichen Scherze gelacht, wieder und wieder über beinahe nichts, und die Schwiegermutter hatte, wenn sie dabei war, selten verstanden, worum es überhaupt ging, und nur mit den Schultern gezuckt. Über die Gleise, die er bis jetzt beaufsichtigt hat, wird sein Zug nun bald fahren, 1 Stunde und 20 Minuten dauert der Abschnitt, nicht länger, verschwindend kurz ist die Strecke, für die er bis jetzt verantwortlich war, im Verhältnis zur ganzen Reise, die er nun vorhat. Wenn er seine Frau umarmte, passte ihr Busen genau in die Wölbung seiner Rippen. Manchmal hatten sie nur so gestanden und waren glücklich gewesen, manchmal hatten sie vor dem Spiegel gemeinsam Fratzen geschnitten, mal hatte er ihr die Spitzen seines Schnurrbarts ins Ohr gesteckt, ein andermal seine Nase an ihrer Nase gerieben. Auf dem Landweg geht es nach Bremen, und dort, so hat der Glatzkopf es ihm erklärt, schifft er sich ein, das Schiff heißt Speranza . Dann hatten sie sich gefragt, ob andere Leute wohl auch solche Dinge trieben, wenn sie allein waren.
    Auf dem Weg zum Bahnhof sieht er auf der anderen Straßenseite sein Haus und bleibt kurz stehen. Da oben findet das statt, was bisher sein Leben hieß, nur die Straße müsste er überqueren, nur die Treppe hinaufgehen, dann wäre er wieder da, wo er hingehört: bei seiner Frau. Bis hierher hört er, wie aus dem

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