Allerliebste Schwester
folgt der Straße, die auf die Hoheluftchaussee stößt.
Sie merkt gar nicht, wohin ihr Weg sie führt. Bis sie schließlich oben auf dem Bahnsteig der Linie U3 an der
Hoheluftbrücke steht und hinunter auf die Gleise blickt. Es ist lange her, dass sie sich an diesen Ort gewagt hat. Nur ein einziges Mal noch nach Marlenes Tod suchte sie hier nach Spuren. Spuren, die alles erklärt hätten. Aber da war nichts außer unerträglicher Normalität. Dort, wo ihre Schwester gestorben war, ging alles weiter, als wäre nichts geschehen.
Eva steht einfach nur da und wartet. Dann ein Pfeifen, als würde ein plötzlicher Wind aufkommen. Die Bahn fährt ein, Eva tritt automatisch ein paar Schritte zurück, wie sie es schon immer getan hat. »Eine archaische Reaktion«, erinnert sie sich an die Worte ihres Psychologielehrers in der zehnten Klasse. »Das ist bei uns so programmiert: Wenn Gefahr droht, flüchten wir entweder - oder wir stürzen uns auf den Angreifer.« Marlene entschied sich fürs Draufstürzen. Ein unfairer Kampf, den sie nicht gewinnen konnte.
Die Bahn spuckt Hunderte von Menschen aus, sie hechten über die Plattform, eilen ihrem Feierabend entgegen. Nach Hause zur Familie, zu Freunden, zum Liebsten. Eine Mutter - sie wird in Evas Alter sein - steigt mit einem kleinen Jungen aus. Sie beugt sich zu ihm hinunter, schließt den Reißverschluss seines Anoraks, zieht ihm die Kapuze über den Kopf. Unwillig reißt er sie sofort herunter. »Lass die bitte auf«, sagt seine Mutter und schiebt sie wieder hoch. »Es ist kalt.« Dann nimmt sie das quengelnde Kind bei der Hand und geht mit ihm zur Treppe, die nach unten zum Ausgang führt.
Eva geht den Bahnsteig entlang und setzt sich auf
eine Bank. Ein piependes Warnsignal erklingt, die Türen schließen sich, langsam fährt die Bahn los, stadtauswärts in Richtung Barmbek. Eva bleibt sitzen und blickt hinunter auf die Gleise. Leere Zigarettenschachteln und Plastikflaschen liegen verstreut, Zeitungsfetzen, ein einzelner Handschuh. Sie weiß nicht, wie lange sie schon auf die Schienen starrt.
»Hallo.« Eva blickt auf und sieht direkt in Marlenes Gesicht, die plötzlich auf der Bank nur wenige Zentimeter entfernt von ihr sitzt. Welch seltsamer Anblick, denkt Eva, als hätte man einen großen Spiegel neben sie gestellt und als würde sie sich nun mit ihrem Ebenbild unterhalten. Aber die Narbe über der Augenbraue fehlt, und auch so weiß Eva, dass Marlene wirklich da ist. Es überrascht sie nicht einmal, es ist, als hätten sie sich an diesem Ort schon vor langer Zeit verabredet.
»Warum hast du es getan?«, fragt Eva. »Ich weiß es nicht.« Marlene zuckt ratlos mit den Schultern.
»Aber du musst es wissen!«
»Vielleicht weiß ich es.« Marlene kickt einen leeren Kaffeebecher, der zu ihren Füßen steht, hinunter auf die Gleise. »Aber es ist doch auch egal.«
»Gar nicht egal!«, schreit Eva sie an und spürt, wie sich die Wut in ihr explosionsartig entlädt. »Du hast mich einfach allein gelassen!«
»Du bist überhaupt nicht allein.« Dann springt Marlene auf, läuft auf den Rand des Bahnsteigs zu und balanciert direkt auf der Kante.
»Lass das!«, ruft Eva. »Du machst mir Angst!«
»Seit wann bist du ängstlich?« Marlene dreht sich überrascht zu ihr um. Dann verliert sie das Gleichgewicht, beginnt mit den Armen zu rudern. In diesem Augenblick fährt die nächste U-Bahn ein, und Marlene kippt nach hinten über.
»Marlene!«, brüllt Eva und springt ebenfalls auf. Aber Marlene ist weg. Sie sieht nur wieder einen Zug, aus dem gesichtslose Menschen steigen und an ihr vorübereilen.
»Geht es Ihnen nicht gut?« Eine ältere Dame bleibt stehen und mustert Eva besorgt. Sie antwortet nicht, schüttelt nur stumm den Kopf, geht zur Treppe und verlässt den Bahnsteig.
Als Eva weiter über die Hoheluftchaussee schlendert, klingelt ihr Handy. Tobias. Vor einer halben Stunde hätte sie normalerweise schon zu Hause sein müssen, wenn sie den direkten Weg genommen hätte. Er wird fragen wollen, wo sie nur bleibt. Sie geht nicht ran. Lieber raucht sie noch eine Zigarette. Die zweite schmeckt schon sehr viel besser, tief inhaliert sie den Rauch, stellt sich vor, wie sich schwarzer Teer in ihre Lungenbläschen frisst. In der Schule haben sie mal ein Bild von einer Raucherlunge gesehen. Rabenschwarz. So schwarz will sie innerlich auch sein, verklebt und geteert, ein verschlossenes Gefäß. Nichts geht mehr rein, nichts kommt mehr raus.
Diesmal verzichtet sie auf den
Weitere Kostenlose Bücher