Allerliebste Schwester
und miteinander reden.«
»Hau ab!«, schrie ich ihn an. »Hau ab und lass mich in Ruhe!« Trotzdem kam er langsam weiter auf mich zu, lächelte mich sogar an.
»Ich liebe dich doch.« Mit diesen Worten umfasste er mit einer schnellen Bewegung meinen rechten Arm, ich versuchte mit aller Kraft, mich wieder von ihm loszureißen, mich von ihm zu befreien, schaffte es aber nicht. Schneller als Tobias, das war ich vielleicht, aber auf keinen Fall stärker. »Ich habe einen Fehler begangen«, sagte er, als sei er wegen überhöhter Geschwindigkeit geblitzt worden. »Aber du musst mir die Chance geben, ihn wiedergutzumachen.« Schon hielt er auch meinen anderen Arm fest umklammert, drehte mich mit dem Rücken zu sich, schob mich Richtung Ausgang der Station. Ich strampelte mit den Beinen, schaffte es, ein paar wertvolle Zentimeter zurückzugewinnen.
»Wenn du mich nicht loslässt, werde ich es allen erzählen!«, stieß ich hervor, immer noch bemüht, mich aus seiner Umklammerung zu lösen. »Allen, hörst du? Deinen Eltern, meinen, den Nachbarn, sogar deinen Kunden werde ich erzählen, dass du mich mit meiner eigenen Schwester betrogen hast.« Kurz lockerte sich sein Griff, nur ein kleines bisschen zwar, aber genug, um unter Aufwendung all meiner Kräfte die Arme hochzureißen und nach vorn zu stürzen. Schon atmete
ich erleichtert auf, da spürte ich einen kräftigen Stoß im Rücken. Die Arme immer noch vorgestreckt, kam ich ins Stolpern, versuchte, mich abzufangen, irgendwie das Gleichgewicht wieder zu finden, zwecklos, unter mir gab der Boden nach, ich ruderte, griff ins Leere, sah plötzlich die Schienen direkt vor mir, diese Gleise, über die ich hatte entkommen wollen. Ein dumpfer Aufprall, Dunkelheit, Schwindel, Stille, für einen kurzen Moment war alles verschwommen um mich. Als Nächstes spürte ich die Vibration, erst schwach, dann immer deutlicher, aus der Ferne von einem Pfeifen untermalt, schneller und schneller kam es näher. Wieder Schwindel, alles drehte sich um mich, ich schloss die Augen, ließ mich einlullen vom Beben der Erde, ließ mich davon sanft in noch tiefere Dunkelheit wiegen. Eva. Mein letzter Gedanke.
Mit großem Dank an Tina Uebel,
Frauke Scheunemann, Bettina & Anja Keil, Edgar Bracht
und Alexandra Heneka
1. Auflage
Copyright © 2010
by Karl Blessing Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Copyright 2010 Wiebke Lorenz.
München - Zürich
eISBN : 978-3-641-04330-8
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