Allerliebste Schwester
hatten ihr Baby geliebt. Sie wünschte nur, die Götter würden sie ebenso sehr lieben.
Sie geht hinüber ins Kinderzimmer, das nun wieder wie vor ihrer Schwangerschaft ein Gästezimmer ist. Erst vor ein paar Monaten hat Tobias voller Vorfreude eine Tapetenborte mit hellblauen Bärchen angebracht, bunte Kindergardinen aufgehängt, ein Babybett und eine Kommode mit Wickeltischaufsatz besorgt, darüber eine Wärmelampe montiert und ein Regal, auf dem Windeln, Feuchttücher und Wundcremes ihren Platz gefunden hätten. An alles dachte er, sogar einen speziellen Windeleimer brachte er mit, der laut Hersteller jegliche Geruchsbildung verhindern soll. Und sie, sie ließ sich anstecken von seiner Euphorie, kaufte Strampler, Bodys und Ringelsöckchen in Unmengen, alles mehrfach durchgewaschen und griffbereit in die Kommode einsortiert. Sie waren bereit für Lukas, für ihr erstes gemeinsames Kind.
Nun stehen in dem Zimmer wieder ein Schlafsofa, Schrank, Tisch, Stuhl und Fernseher. Die Bärchen hat
Tobias mit einem Paisleymuster überklebt, anstelle der bunten Vorhänge flattern wollweiße Gardinenschals sachte vor dem gekippten Fenster. Ein gemütliches Gästezimmer, von dessen hinterem Teil ein eigenes Bad abgeht.
Nur haben sie so gut wie keinen Besuch mehr. Sie kann es nicht ertragen. Diese Blicke, dieses Berühren ihrer Schultern und Hände, diese Versuche, sich irgendwie hilfreich zu zeigen. In den ersten zwei Monaten nach Lukas stiller Geburt kamen noch häufiger Freunde und Bekannte vorbei. Aber irgendwann waren sie es leid, hilflos dazusitzen, und meldeten sich nicht mehr. Sie ist darüber nicht traurig. Es ist ihr recht, dass alle gegangen sind.
»Eva?« Tobias ist geblieben. »Eva, wo steckst du denn?«
»Nicht mehr da«, möchte sie antworten. Aber sie schweigt, bringt kein Wort heraus. Stattdessen lässt sie ihren eigenen Namen im Kopf widerhallen. Eva. Ausgerechnet Eva . Stammmutter der Menschheit. Jetzt gibt sie doch einen Laut von sich. Ein Lachen. Sie setzt sich aufs Sofa. Dorthin, wo noch vor Wochen Lukas’ Bettchen stand. Und lacht.
Mittlerweile ist er in der Küche. Sie hört, wie er unten mit den Türen klappert, um die Einkäufe einzuräumen. Dann ein Klirren, vermutlich stellt Tobias ein paar Weinflaschen in den Getränkekorb aus geflochtenen Weidenzweigen, der neben dem Sideboard aus Teak steht.
»Ich bin wieder zurück«, ruft er noch einmal nach
ihr. Sie atmet tief ein und wieder aus. Dann streift sie sich die Haarsträhne, die sich aus ihrem Zopf gelöst hat, aus dem Gesicht und klemmt sie hinters Ohr, steht auf und geht die Treppe hinunter in die Küche.
»Hallo«, sagt sie und gibt ihm einen flüchtigen Begrüßungskuss.
»Hallo, Schatz.« Er lächelt. »Ich dachte schon, du wärst gar nicht zu Hause.« Sie zuckt nur mit den Schultern. »Ich hab’ neue Winterreifen besorgt und raufziehen lassen«, erzählt er, während er eine Flasche Olivenöl auf die Ablage an der Dunstabzugshaube über dem Herd stellt. »Achthundert Euro, inklusive Montage. Und Dienstag kommt endlich der Klempner, um sich den kaputten Durchlauferhitzer anzusehen. Keine Ahnung, warum da ständig die Sicherungen rausfliegen, vielleicht muss ja ein neuer eingebaut werden.« Er schiebt den nun fast leeren Karton mit einem Fuß zur Tür der Abseite, in der sie die Vorräte aufbewahren, öffnet sie und beginnt, die restlichen Besorgungen ins Regal zu stellen. Drei Gläser Ragout fin, eine große Packung Königinpastetchen, eine Dose Thunfisch, Tagliatelle, Tomatenmark, Wildreis, Pesto, Geflügelfond …
Seit sie vor drei Wochen im Supermarkt an der Kasse eine Schwangere angebrüllt hat, die höflich fragte, ob sie sich mit ihrer Tüte Milch kurz vordrängeln dürfe, erledigt Tobias das Einkaufen. »Du musst dich schonen«, hat er gesagt. Sie weiß, dass das nicht die Wahrheit ist. Sie soll die anderen schonen.
»Morgen Vormittag fahre ich noch schnell zum Baumarkt«,
erzählt Tobias weiter. »Ich habe gesehen, dass da gerade Gartenhäuser im Angebot sind, vielleicht ist da was Passendes dabei. Wenn wir die Terrassenmöbel nicht langsam reinstellen, können wir sie im nächsten Jahr wegwerfen, was meinst du? Hat ja die letzten Tage schon wieder ganz schön geregnet.« Sie sieht ihn an und versucht, sich daran zu erinnern, was er gerade gesagt hat. Aber es fällt ihr einfach nicht mehr ein. »Eva? Hörst du mir überhaupt zu?«
»Ja«, sagt sie. Und dann fügt sie hinzu: »Ich bin müde und gehe ins Bett.«
»Es ist
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