Allerliebste Schwester
ein paar wenige Stunden Schlaf nur, dann musste er wieder los. »Ist die Katze aus dem Haus, tanzen die Mäuse auf den Tischen«, hat er seine langen Arbeitszeiten immer gerechtfertigt, obwohl Eva nie danach gefragt hat. Jetzt scheint er zu befürchten, dass woanders auf den Tischen getanzt wird. Dass Eva wieder mit einer Tätowierung nach Hause kommt, wenn sie außerhalb seiner Kontrolle ist. Oder mit einem kahl rasierten Schädel. Oder mit irgendetwas anderem, das sie sich hat einfallen lassen.
Eva findet sein Verhalten übertrieben und lächerlich. Und sinnlos noch dazu. Es wäre für sie ein Leichtes, in
der Mittagspause aus dem Laden zu spazieren und alles Mögliche anzustellen. Sie ist ja kein Kind mehr, sondern immerhin einunddreißig Jahre alt. Sie könnte sich einfach ein Taxi nehmen, in die Innenstadt fahren und mit Tobias’ American Express - natürlich Platinum! -, von der sie eine Partnerkarte hat, bei Gucci einkaufen. Oder bei Prada und Bulgari. Das würde Tobias wahrscheinlich nicht einmal schlimm finden. Frauen wie sie dürfen in Designerläden einkaufen. Das ist besser, als wenn sie sich eine Tätowierung verpassen lassen.
Über die Kreuze an den Handgelenken hat Eva sich zwei Pulswärmer gezogen. Tobias hat sie gekauft und sie darum gebeten. Im Sommer müssten sie sich etwas anderes überlegen, momentan würde es auch so gehen, und er wäre ihr dankbar, wenn sie das Ergebnis ihres »seltsamen Einfalls« nicht überall herumzeigt.
Diesen Wunsch kann Eva ihm erfüllen. Es reicht ihr, zu wissen, dass sie da sind. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar. Gerade hat sie die französische Originalausgabe des Kleinen Prinzen an ein Mädchen verkauft, für den Schulunterricht. L’essentiel est invisible pour les yeux. Eva könnte einen Sprachkurs belegen und Französisch lernen. Marlene sprach es fließend. Genau wie Englisch und Spanisch. Aber sie war ja auch immer eine Musterschülerin, der alles zuflog.
Vielleicht wäre es Eva auch zugeflogen. Nur interessierte sie sich viel zu sehr für andere Dinge. Neben ihrem holperigen Schulenglisch ist Italienisch die einzige Sprache, die sie bruchstückhaft versteht, und da auch
nur die Texte der Arien, die sie früher so gern gesungen hat. »Sprache des Herzens«, hatte ihr Gesangslehrer es einmal genannt. Später allerdings zeigte er Eva, so wie die meisten Männer, die vor Tobias in ihrem Leben waren, dass er in erster Linie an der Sprache des Körpers interessiert war.
»Du bist ja so in Gedanken«, sagt Gabriele und bringt Evas Gedanken damit zu einem Ende.
»Ich habe gerade überlegt, ob ich vielleicht Französisch lernen sollte. Bei einem Abendkurs an der Volkshochschule oder so«, erwidert Eva.
»Das ist eine gute Idee. Da könnte ich doch sogar mitmachen, was meinst du?«
»Willst du mich kontrollieren?«
»Nein, wie kommst du denn darauf?« Gabriele sieht sie an und schüttelt den Kopf.
»Nur so. Aber nein, natürlich nicht.« Eva geht zur Kasse hinüber, um eine neue Rolle Geschenkpapier aus dem Regal unterm Tresen zu nehmen und sie auf die dafür vorgesehene Halterung zu schieben.
»Ich hole mir eben ein Brötchen vom Bäcker«, sagt Gabriele. »Möchtest du auch was?«
»Nein, danke.« Die Türglocke ertönt, Gabriele hat den Laden verlassen.
Drei Sekunden später wieder ein Klingeln.
»Hast du was vergessen?«, fragt Eva, während ihr drei Rollen Geschenkband aus dem Regal entgegenfallen, über den Boden kullern und sich dabei abwickeln. Keine Antwort. Eva lugt über dem Tresen hervor, ein Mann im dunkelblauen Colani-Marinemantel steht im
Geschäft. »Bin sofort bei Ihnen«, ruft sie, bückt sich, sammelt eilig die Rollen ein und stopft sie zurück ins Regal.
Sie richtet sich wieder auf, geht um den Tresen herum zu dem Tisch mit den Neuerscheinungen, vor dem der Kunde nun steht und ihr den Rücken zugewandt hat.
»Suchen Sie etwas Bestimmtes?« Der Mann dreht sich um. Sackt unmerklich zur Seite, stützt sich am Tisch ab, ein paar Bücher gehen dabei zu Boden. Evas Handgelenke beginnen zu kribbeln. Als liefe Wasser darüber, heißes Wasser, eine wetterfühlige Narbe.
Er ist kaum größer als sie selbst, die blonden Haare irgendwas zwischen kurz und mittellang, an den Stirnseiten zeigen sich leichte Geheimratsecken, seine blassblauen Augen schauen hinter Brillengläsern mit dünnem Silbergestell hervor. Anfang dreißig, vielleicht auch etwas jünger. Kein auffälliger Typ. Jemand, den man im Vorübergehen höchstens aus den
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