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Alles auf Anfang

Alles auf Anfang

Titel: Alles auf Anfang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benioff David
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Deutung, dass das hölzerne Pferd die Liebe ist, das gegen alle Warnungen durch die Tore hereingelassen wird, samt den Meuchelmördern in seinem Inneren, Männern mit langen Messern, die aus dem dunklen Bauch kriechen und die Stadt niederbrennen.
    Eine Woche später war er tot und begraben mit den anderen Toten.

    Die neue antivirale Therapie wurde natürlich als ein großer Erfolg gefeiert. Strahlende Mediziner schmückten die Titelseiten von Zeitschriften, Reagenzgläser in der Hand, darüber jubelnde Schlagzeilen: Hoffnung für die Hoffnungslosen, Die Virusjäger, Mann des Jahres, Endlich Heilung? Ich las Artikel um Artikel, die die Genialität der Wissenschaftler priesen, ihre eingehenden Forschungen und Versuche, wie sie sich nach jeder Niederlage aufrafften und den Angriff erneuerten.
    Ich besah mir Diagramme der molekularen Zusammensetzung dieser Medikamente; ich las die detaillierten Berichte der staatlichen Zulassungsbehörde. Ich studierte Tabellen, die Prozentzahlen der Medikamente auflisteten: ihre Wirksamkeit beim Senken der Viruslast oder dem Erhöhen des T4-Werts, die Raten ihrer spezifischen Toxizitäten. Die Zahlen waren in zwei parallelen Kolonnen angeordnet, einer Statistik für Personen, die die Medikamente erhalten hatten, gegenüber einer Statistik für Personen, die Placebos erhalten hatten. Ich las, dass Nevirapin bei siebenundvierzig Prozent der Patienten Übelkeit hervorrief gegenüber drei Prozent bei der Placebogruppe. Schwer
atmend las ich die kursiv gedruckte Liste der im Laufe von zwei Jahren durch die Medikamente induzierten Symptome, Nebenwirkungen, die bei mir aufgetreten waren, und viele weitere, die mir erspart geblieben waren: Nierensteine, Bilirubin, Schmerzen im Bauchbereich, Müdigkeit, Schmerzen in der Leistengegend, Durchfall, Erbrechen, Sodbrennen, Appetitlosigkeit, Mundtrockenheit, Rückenschmerzen, Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit, Schwindel, Beeinträchtigungen des Geschmackssinns, Hautausschlag, Atemwegsinfektionen, Anämie, peripherale Neuropathie, Lebertoxizität, Pankreatitis, Geschwüre, trockene Haut, Halsentzündung, Fieber, Verdauungsstörungen, Muskelschmerzen, Beklemmungen, Depressionen, Juckreiz, schmerzhafte Reizungen, Gallenblasenentzündung, Leberzirrhose. Ich glaubte, eine Art Reimschema in der Aufzählung zu entdecken, einen Rhythmus, und dachte: Diese Wörter bedeuten dem, der sie getippt hat, gar nichts, sie sind nichts weiter als Ansammlungen von Buchstaben, von Schmerzen unbelastet. Ich dachte: Das sind die Leiden der Glücklichen, der Überlebenden. Ich las die Prozentzahlen für die Placebo-Benutzer: zwei Prozent, zwei Prozent, null Prozent, ein Prozent - und etwas ergab plötzlich einen Sinn. Ich ließ die Fachzeitschrift auf den Boden fallen und schloss die Augen.
    Am nächsten Morgen hämmerte ich an die Tür von Kislyanys Sprechzimmer. Eine Krankenschwester, in der einen Hand ein Klemmbrett und in der anderen eine Tasse Kaffee, ging an mir vorbei und lächelte.
    »Wie geht es Ihnen, Alexander?«
    Ich hämmerte wieder an die Tür, und Kislyany öffnete. Zwei junge Männer saßen vor seinem Schreibtisch, der eine
schwarz, der andere weiß, die Köpfe zusammengesteckt, und besprachen sich in leisem, drängendem Ton. Sie hielten Verträge in der Hand.
    »Alexander«, sagte Kislyany. »Was ist passiert? Fühlen Sie sich nicht wohl?«
    Er war einer der Helden des großen medizinischen Durchbruchs, und der Erfolg hatte ihn beschwingt. Er lehnte sich an den Türrahmen, stattlich und kultiviert, eine Hand in der Tasche seiner grauen Strickjacke. Anfänglich war seine Miene freundlich und besorgt. Das änderte sich, als er den Ausdruck in meinem Gesicht sah; er hob abwehrend die Hände, noch bevor ich den Mund aufmachte.
    »Sie haben ihn sterben lassen«, sagte ich. »Sie wussten, was los war, und Sie haben ihn sterben lassen.«
    Ich glaube nicht, dass ich sehr laut sprach, aber die beiden jungen Männer drehten sich um und starrten mich an. Kislyany trat aus dem Sprechzimmer und nickte ihnen zu.
    »Nur eine Minute, meine Herren.« Er machte die Tür hinter sich zu.
    »Er hat nie die echten Medikamente bekommen, stimmt’s?«
    »Lassen Sie uns ein paar Schritte gehen, Alexander.« Kislyany wollte die Hand an meinen Ellbogen legen, doch ich stieß sie weg. »Alexander …«
    »Stimmt’s?«
    »Ja. Er war Teil der Kontrollgruppe.« Kislyany sah, wie sich mein Gesicht verzerrte, und setzte rasch hinzu: »So läuft das in der medizinischen Forschung. Es geht

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