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Walpurgistag

Walpurgistag

Titel: Walpurgistag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annett Groeschner
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Vorspiel
Alex umrundet die Welt und wird in Höhe Ostgrönland von einer Doppelstreife belästigt
    Auf dem Brunnenrand liegen eine Barbiepuppe ohne Kopf, drei lederne Brieftaschen ohne Inhalt, der Schwanz einer Ratte und die Zeitung von morgen, die einer schon ausgelesen hat. » 1. Mai – Erleben wir den Gipfel der Gewalt?«, steht groß auf der ersten Seite.
    Ich krame weiter in den Tiefen meines Rucksacks und finde den blutig verschmierten Kopf einer Barbie, aber nicht meinen Schal. Der Alexanderplatz ist ein Kältepol. Nur Herumlaufen wärmt. Schon zehnmal habe ich den Weg vom Brunnen bis zur Weltzeituhr zurückgelegt. Ich weiß jetzt, wie spät es in Phnom Penh ist und welche Zeit die Armbanduhren der Moskauer anzeigen.
    Mich befällt der Wunsch, in das Zeitgefüge der Welt einzugreifen. Mit großer Geste die Planeten anzuhalten oder die Uhren um einen Tag vorzustellen. Vielleicht würde ich mich daran aufwärmen können. Den ganzen Winter über habe ich nicht so gefroren wie heute Nacht. Also wieder von vorn. Der Weg ist das Ziel, der Weg ist ein Spiel. Ich achte dieses Mal streng darauf, beim Gehen nicht auf die Ritzen der Gehwegplatten zu treten. Und suche dabei nach Sätzen, die rhythmisch zu meinen Schritten passen. Lie-ber A-lex-an-der-platz, schenk mir ei-nen gu-ten Satz. Der Alexanderplatz schweigt. Ich blicke mich um und finde »Richtig leben. Ab jetzt können Sie es!« am Schaufenster der Sparkasse. Richtig leben. Ausgerechnet die müssen mir das sagen. Dieser Satz lässt sich nicht gut erlaufen. Zwischen »Leben« und » Jetzt « stockt der Schritt. Wahrscheinlich sehe ich bei diesem Satz aus wie ein Storch, der durch den Salat stakst.
    Ich probiere es mit: Mo-na-den ha-ben kei-ne Fens-ter. Ich weiß nicht, warum ich beim Wort Monade automatisch den
Alexanderplatz sehe, egal, wo ich bin. Und zwar den von 1986. Blick von der Selbstbedienungsgaststätte im Sockelgeschoss des Interhotels Stadt Berlin in Richtung Alexanderhaus, noch mit den gestreiften Markisen über den Fenstern des Berliner Kaffeehauses, das schon lange nicht mehr existiert.
    Kurz vor der Weltzeituhr machen die Gehwegplatten schwarzen Basaltkatzenköpfen Platz. Der gepflasterte Kreis um die Uhr ist drei Männerschritte breit und beim besten Willen nicht mit einem Satz zu überspringen, nicht einmal mit Anlauf. Ich bräuchte jemanden, der mich durch das Basaltmeer bis zum kreisrunden Mosaikboden unter der Weltzeituhr trägt. Aber es ist kein Mensch in der Nähe, nur hinten am Eingang des Kaufhauses am anderen Ende des Platzes sitzen ein paar Punks mit ihren Hunden. Aber auch wenn sie in meiner Nähe wären, würden sie mir wohl den Vogel zeigen.
    Ich laufe vorsichtig auf Zehenspitzen über das Steinwasser und fühle mich wie Jesus, der übers Wasser läuft, bis ich wieder festen Boden unter den Füßen habe. Über mir ist jetzt das Dach der Weltzeituhr, das gut vor Regen schützt, und unter mir der zur Windrose geformte Mosaikboden: Nord, Nordnordost, Nordost, Ostnordost, Ost, Ostsüdost, Südost, Südsüdost, Süd, Südsüdwest, Südwest, Westsüdwest, West, Westnordwest, Nordwest, Nordnordwest, sagen die Platten; sechzehn Schritte im Uhrzeigersinn auf dem roten Stein mit den eingelassenen Messingbuchstaben bis zum Ausgangspunkt Nord, und nicht auf die Ritzen treten, nie, nie, nie.
    Was sehen meine müden Augen, als ich in Höhe Chabarowsk eine Sekunde innehalte und meinen Blick über den Platz schweifen lasse: Transzendenz, Rausch, Mukulator und Entropie. Nein, Utopie nicht, ganz und gar nicht. Alles ist gegenwärtigste, was sag ich, widerwärtigste Gegenwart. Sie sind überpünktlich in ihrer weiß-grünen Minna. Fünf Minuten vor der Zeit. Wen haben wir denn da heute? Oberwachtmeister Bartuschewski, der seinen Namen nicht mag, weil er so polnisch klingt, und neben ihm am Steuer den Genossen Gottfried. Eingehüllt in ihren Blechkokon, aus dem sie nur ungern schlüpfen. Und schon gar nicht in einer kühlen Aprilnacht. Außerdem essen die beiden zu viel während
der Nachtschicht, eines Tages werden sie beim Aussteigen mit ihren Bäuchen stecken bleiben und nur noch über ihre Anlage schreien können: »Herr von Alex, nach ASOG § 2,9 Absatz 2 ist es Ihnen verboten, sich auf dem Alexanderplatz aufzuhalten.« Und ich werde meine aus der Zeitung des Tages gefaltete Flüstertüte nehmen und quer über den Platz zurückrufen: »Genosse Bartuschewski, Genosse Gottfried! Stillgestanden! Für den vorbildlichen Streifendienst an einem

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