Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)
ganze Gesellschaft übermitteltwerden, zerstöre die Kultur, denn die einzige Möglichkeit, eine solche allgemeine Demokratisierung der Kultur zu schaffen, eine »Massenkultur«, bewirke eine Verfälschung und Vergröberung derselben. So wie in Eliots Verständnis Eliten unerlässlich sind, muss es in einer Gesellschaft auch eine regionale Kultur geben, welche die nationale Kultur speist und zugleich Teil von ihr ist, eine Kultur mit einem eigenen Profil und einer gewissen Unabhängigkeit: »Zunächst ist wichtig, dass ein Mensch sich nicht nur als ein Bürger einer bestimmten Nation fühlen sollte, sondern als Bürger eines besonderen Teils seines Landes, und zwar mit ganz bestimmten lokalen Bindungen. Diese entspringen, wie die Bindungen an die Klasse, der Bindung an die Familie« (S. 66).
Für Eliot wird Kultur im Wesentlichen innerhalb der Familie übermittelt, und wenn diese Institution ihre Aufgabe nicht mehr erfüllt, müssen wir damit rechnen, »dass unsere Kultur minderwertiger wird« (S. 54). Nach der Familie sei, generationenübergreifend, die Kirche die wichtigste Übermittlerin von Kultur gewesen, nicht die Schule. Wobei Kultur zu unterscheiden sei von Kulturwissen. Die Kultur ist für ihn »nicht einfach die Summe verschiedener Betätigungen«, sondern »eine Lebensform « (S. 51 f.), ein way of life , bei dem die Formen ebenso wichtig sind wie der Inhalt. Wissen hat mit der Entwicklung der Technik und der Wissenschaften zu tun, dagegen geht Kultur dem Wissen voraus, sie ist eine Geisteshaltung, eine Sensibilität und eine Pflege der Form, welche den Erkenntnissen einen Sinn und eine Orientierung gibt.
Kultur und Religion sind für Eliot nicht dasselbe,aber sie lassen sich nicht voneinander trennen, denn die Kultur entstand mit der Religion, und so wird sie immer, auch wenn sie sich historisch von ihr entfernt hat, gleichsam durch eine Nabelschnur mit ihr verbunden sein. Was bedeutet, »dass jede Religion für die Zeit ihres Bestehens und auf dem ihr eigenen Niveau dem Leben einen greifbaren Sinn gibt, das Gerüst für eine Kultur stellt und die Masse der Menschheit vor geistiger Leere und Verzweiflung bewahrt« (S. 41).
Wenn Eliot von Religion spricht, meint er vor allem die christliche Überlieferung, die Europa maßgeblich geprägt habe. »Auf dem Boden des Christentums hat sich unsere Kunst entwickelt; im Christentum ist das Rechtswesen Europas – bis vor kurzem jedenfalls – verwurzelt gewesen. Ohne das Christentum als Hintergrund hätte unser ganzes Geistesleben keinen Sinn. Der einzelne Europäer mag die Lehre des Christentums für falsch halten, und doch wird alles, was er sagt und tut und schafft, seinem christlichen Kulturerbe entspringen und diese Kultur als sinngebend voraussetzen. Nur eine christliche Kultur konnte einen Voltaire oder Nietzsche hervorbringen. Ich glaube, dass die europäische Kultur das völlige Erlöschen christlicher Religiosität nicht überleben könnte.« (S. 163 f.)
Eliots Vorstellung von Gesellschaft und Kultur erinnert in ihrer Gliederung an Hölle, Fegefeuer und Himmel in Dantes Göttlicher Komödie mit ihren Kreisen und Sphären, ihren starren Symmetrien und Hierarchien, in denen Gott nach einer unantastbaren Ordnung das Böse bestraft und das Gute belohnt.
1971, gut zwanzig Jahre nach Eliots Buch, antwortet George Steiner ihm mit In Bluebeard’s Castle. Some Notes Towards the Redefinition of Culture 2 . In seinem dichten, eindringlichen Essay zeigt er sich zutiefst beunruhigt, dass der große Dichter von The Waste Land kurz nach dem Krieg über die Kultur hatte schreiben können, ohne das Thema auch nur im Mindesten mit den beiden Weltenbränden des Jahrhunderts und dem Massenmorden in Beziehung zu setzen, ohne den Holocaust auch nur zu streifen, zu dem die lange antisemitische Tradition in der westlichen Kultur geführt habe. Steiner nimmt sich vor, diesem Versäumnis mit einer Analyse zu begegnen, welche vorrangig die Verbindung von Kultur und politisch-gesellschaftlicher Gewalt bedenkt.
Steiner zufolge breitet sich nach der Französischen Revolution und den Napoleonischen Kriegen mit der Restauration und dem Sieg des Bürgertums auf dem Alten Kontinent der große ennui aus, was mit Langeweile nicht adäquat übersetzt sei: ein nagendes Unbehagen, eine Mischung aus Frustration, Überdruss, Melancholie und heimlicher Sehnsucht nach dem großen Knall, nach Gewalt und Chaos, wovon die europäische Literatur und Werke wie Freuds Das Unbehagen in der Kultur
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