Alles Boulevard: Wer seine Kultur verliert, verliert sich selbst (German Edition)
gemacht; außerdem scheinen ihm die Inhalte dieser neuen Kultur in vollkommener Übereinstimmung zu sein mit der Moderne, den großen wissenschaftlichen und technologischen Errungenschaften unserer Zeit.
Die Berichte und Belege, die Martel versammelt, wie auch seine eigenen Analysen sind lehrreich und dürften repräsentativ sein für eine Wirklichkeit, um die Soziologie und Philosophie lange einen Bogen gemacht haben. Die große Mehrheit des Menschengeschlechts praktiziert, konsumiert und produziert heute keine andere Form von Kultur als jene, die früher von den gebildeten Kreisen nur abschätzig betrachtet wurde, als reine Freizeitbeschäftigung, ohne jede Verwandtschaftmit den geistigen, künstlerischen und literarischen Betätigungen, auf denen die Kultur gründet. Die ist längst tot, auch wenn sie, ohne jeden Einfluss auf den Mainstream, in bestimmten Nischen noch weiterexistiert.
Der wesentliche Unterschied zwischen der vergangenen Kultur und dem heutigen »Entertainment« ist, dass früher ein Werk beanspruchte, die Gegenwart zu transzendieren und zu überdauern, in den kommenden Generationen lebendig zu bleiben, während die neuen Produkte hergestellt werden, um augenblicks, wie Kekse oder Popcorn, konsumiert zu werden und zu verschwinden. Tolstoi, Thomas Mann, selbst Joyce und Faulkner schrieben noch Bücher, die den Tod besiegen, ihre Autoren überleben, dereinstige Leser für sich einnehmen und in Bann schlagen wollten. Brasilianische Telenovelas und Bollywood-Filme wollen, wie die Konzerte von Shakira, nicht länger dauern als ihre Aufführung, um Platz zu machen für andere Produkte, die ebenso erfolgreich und flüchtig sind wie sie. Kultur ist Unterhaltung, und was nicht unterhält, ist keine Kultur.
Martels Untersuchung zeigt, wie weltumspannend das Phänomen heute ist, eine geschichtliche Premiere und ein Ereignis, an dem die entwickelten und die unterentwickelten Länder gleichermaßen teilhaben, so unterschiedlich ihre Traditionen, religiösen Anschauungen oder Regierungssysteme auch sein mögen.
Wesentlich für diese neue Kultur sind die industrielle Massenproduktion und der kommerzielle Erfolg. Die Unterscheidung zwischen Preis und Wert hat sich verflüchtigt, beides ist jetzt eins, wobei hier das eine das andere absorbiert und außer Kraft setzt. Was erfolgreich ist und sich verkauft, ist gut, und was scheitert und vomPublikum verschmäht wird, ist schlecht. Der einzige Wert ist der kommerzielle. Das Verschwinden der alten Kultur bedeutet das Verschwinden der alten Vorstellung von Wert. Der einzige Wert, den es heute noch gibt, ist der vom Markt bestimmte.
Von T. S. Eliot bis zu Frédéric Martel hat der Kulturbegriff viel mehr als eine Entwicklung erlebt: es ist der traumatische Umzug in eine neue Wirklichkeit, in der kaum noch Spuren bleiben von jener, die sie verdrängt hat.
I
Die Kultur des Spektakels
Claudi Pérez, von El País nach New York entsandt, um über die Finanzkrise zu berichten, schreibt am Freitag, dem 19. September 2008: »Die New Yorker Boulevardpresse sucht wie verrückt nach einem Broker, der von einem der imposanten Wolkenkratzer in die Tiefe springt, wo die großen Investmentbanken ihr Domizil haben, die einstigen Idole, die der Finanzsturm hinwegfegen wird.« Halten wir uns für einen Moment das Bild vor Augen: eine Meute von Papparazzi, die in die Höhe späht, um den ersten Selbstmord einzufangen als anschauliche, dramatische, spektakuläre Verkörperung der Finanzkatastrophe, die Billionen von Dollar vernichtet und Großunternehmen wie unzählige Privatanleger in den Abgrund getrieben hat. Ich glaube nicht, dass es ein Bild gibt, das unsere Kultur besser auf den Punkt bringen könnte.
Aber was heißt Kultur des Spektakels? Es ist die Kultur, in der Unterhaltung das Wichtigste ist, in der Eskapismus und Spaß die allesbeseelenden Leidenschaften sind. All das ist völlig legitim, klar. Nur ein verknöcherter Puritaner könnte seinen Mitmenschen vorwerfen, sie wollten sich in ihrem oft deprimierenden, abstumpfenden Alltagsleben entspannen, zerstreuen, etwas Humor und Vergnügen gönnen. Doch wird diese verständliche Neigung, es sich gutgehen zu lassen, zum höchsten Wert erhoben, bleiben die Folgen nicht aus: die Kultur wirdbanal, das Frivole breitet sich aus, und um sich greift ein Journalismus des Klatsches und des Skandals.
Fragt sich, wie der Westen in eine solcherart geprägte Kultur abrutschen konnte. Dazu gehört gewiss der außerordentliche
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