Alles ist erleuchtet
Abakusperle verdeckte, die er aufgrund einer Schtetl-Prokla-mation an einer Schnur um den Hals tragen musste. Komm aus dem Wasser raus, sonst passiert dir noch was!
Der gute Gefilte-Fisch-Händler Bitzl Bitzl R. betrachtete das Durcheinander von seinem Boot aus, das mit einer Schnur an einer seiner Reusen festgebunden war. Was ist da los?, rief er zum Ufer. Bist du's, Jankel? Gibt's irgendwie Schwierigkeiten?
Die beiden Zwillinge des Hochgeachteten Rabbis, rief Jankel zurück. Sie spielen im Wasser, und ich habe Angst, dass einer von ihnen was passiert!
Da kommen ja die seltsamsten Sachen hoch!, lachte Chana und spritzte Wasser auf all die Dinge, die rings um sie wuchsen wie ein Garten. Sie fischte die Hände einer Babypuppe und die Zeiger einer Standuhr heraus. Schirmspeichen. Einen Dietrich. Die Gegenstände wurden von Luftblasen emporgetragen, die an der Oberfläche zerplatzten. Die etwas jüngere und weniger vorsichtige der Zwillingsschwestern fuhr mit gespreizten Fingern durch das Wasser und brachte jedes Mal etwas Neues zum Vorschein: ein gelbes Windrad, einen mit Schlamm verschmierten Handspiegel, die Blütenblätter eines versunkenen Vergissmeinnichts, ein Päckchen Samen...
Doch ihre etwas ältere und vorsichtigere Schwester Hannah -ihr genaues Ebenbild bis auf die Härchen, die zwischen ihren Augenbrauen wuchsen - sah vom Ufer aus zu und weinte. Der entehrte Wucherer Jankel D. nahm sie in die Arme, drückte ihren Kopf an seine Brust und murmelte: Ist ja gut... ist ja gut... Bitzl Bitzl rief er zu: Fahr zum Haus des Hochgeachteten Rabbis und bring ihn her. Und hole auch Menasche den Arzt und Isaak den Rechtsgelehrten. Beeil dich!
Der verrückte Grundbesitzer Sofiowka N., dessen Namen das Schtetl später auf Landkarten und in mormonischen Volkszählungsunterlagen annahm, trat hinter einem Baum hervor. Ich habe alles gesehen, was geschehen ist, sagte er mit hysterischer Stimme. Ich kann alles bezeugen. Der Wagen war zu schnell für diesen Feldweg - noch schlimmer als zur eigenen Hochzeit zu spät zu kommen, ist, zur Hochzeit der Frau zu spät zu kommen, die man kriegen wollte, aber nicht gekriegt hat -, und mit einemmal hat er sich umgestürzt, und wenn das nicht die reine Wahrheit ist, dann hat sich der Wagen nicht selbst umgestürzt, sondern ist von einem Windstoß aus Kiew oder Odessa oder was weiß ich woher umgestürzt worden, und wenn das ein wenig unglaublich erscheint, dann ist eben - ich schwöre es bei meinem unbefleckten Namen - ein Engel mit Flügeln, so grau wie ein Grabstein, vom Himmel herniedergefahren, um Trachim mitzunehmen, denn Trachim war zu gut für diese Welt. Das gilt natürlich für jeden von uns. Wir alle sind zu gut füreinander.
Trachim?, fragte Jankel und ließ es zu, dass Hannah die in-kriminierende Perle befingerte. Ist Trachim nicht der Schuhmacher aus Lutsk, der vor einem halben Jahr an Lungenentzündung gestorben ist?
Seht euch das an!, rief Chana kichernd und hielt den Cun-nilingusbuben aus einem schmutzigen Kartenspiel hoch.
Nein, sagte Sofiowka. Der Mann hieß Trachum, mit einem U. Der hier hieß Trachim mit l. Und dieser Trachum ist in der Längsten Nacht gestorben. Nein, warte mal. Warte mal. Er ist daran gestorben, dass er Künstler war.
Und das hier!, kreischte Chana und schwenkte eine ausgebleichte Karte des Universums.
Komm aus dem Wasser raus!, rief Jankel, und zwar lauter, als er es gegenüber der Tochter des Hochgeachteten Rabbis oder gegenüber irgendeinem anderen jungen Mädchen eigentlich sein wollte. Dir passiert noch was!
Chana kam schnell zum Ufer. Das dunkelgrüne Wasser verbarg den Zodiakus, als die Sternenkarte auf den Grund des Flusses sank und sich wie ein Schleier über den Kopf des Pferdes legte.
Die Fensterläden des Schtetls wurden wegen des Spektakels aufgestoßen (Neugier war das Einzige, was alle Bewohner miteinander verband). Der Unfall hatte sich bei dem kleinen Wasserfall ereignet, an jenem Uferabschnitt, wo die momentane Grenze zwischen den beiden Teilen des Schtetls - dem Jüdischen Viertel und dem Menschlichen Dreiviertel - auf den Fluss traf. Alle so genannten heiligen Handlungen - religiöse Studien, koscheres Schlachten, Feilschen, usw. - fanden im Jüdischen Viertel statt. Jene Tätigkeiten dagegen, die zur Routine des täglichen Lebens gehörten - weltliche Studien, Rechtsprechung, Handel und Wandel usw. - , fanden im Menschlichen Dreiviertel statt. Auf der Grenzlinie zwischen den beiden stand die Aufrechte Synagoge. (Auch
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