Alles ist erleuchtet
unmöglich, dass er noch am Leben ist, sagte Menasche der Arzt und öffnete seine Arzttasche. Er holte einige Totenscheine hervor, die von einem neuen Windstoß mitgenommen und in die Bäume gewirbelt wurden. Einige davon würden im September mit den anderen Blättern fallen. Andere würden Generationen später mit den Bäumen fallen.
Und selbst wenn er noch am Leben wäre, könnten wir ihn nicht befreien, sagte Schloim, der sich hinter einem großen Felsen abtrocknete. Man kann erst zu dem Wagen vordringen, wenn die ganze Ladung an die Oberfläche gestiegen ist.
WIR MÜSSEN EINEN SCHTETL-ERLASS VERFASSEN, verkündete der Hochgeachtete Rabbi noch mit gebieterischerer Stimme.
Also - wie hieß er denn nun genau?, fragte Menasche und legte die Feder an die Zunge.
Können wir sicher sein, dass er eine Frau hatte?, fragte die trauernde Schanda und legte die Hand auf ihr Herz.
Haben die Mädchen irgendetwas gesehen?, fragte Avram R., der Edelsteinschneider, der selbst keinen einzigen Ring trug (obgleich der Hochgeachtete Rabbi ihm versichert hatte, er kenne eine junge Frau in Lodz, die ihn glücklich machen könne [für immer]).
Die Mädchen haben nichts gesehen, sagte Sofiowka. Ich habe gesehen, dass sie nichts gesehen haben.
Die Zwillinge - diesmal alle beide - begannen zu weinen.
Aber wir können uns in dieser Sache doch nicht nur auf sein Wort verlassen, sagte Schloim und machte eine Geste in Sofiowkas Richtung, der seinerseits diese Freundlichkeit mit einer Geste beantwortete.
Fragt nicht die Mädchen, sagte Jankel. Lasst sie in Ruhe. Sie haben genug durchgemacht.
Inzwischen hatten sich beinahe alle der über dreihundert Einwohner des Schtetls eingefunden, um über das zu debattieren, wovon sie nichts wussten. Je weniger einer wusste, desto unnachgiebiger bestand er auf seiner Meinung. Das war nichts Neues. Vor einem Monat war es um die Frage gegangen, ob es im Interesse der Kinder nicht besser sei, das Loch im Bagel ein für alle Mal zu stopfen. Vor zwei Monaten hatte es die grausame und komische Diskussion über Schriftsetzen und davor die Debatte über die Frage der polnischen Identität gegeben, die viele zum Weinen und viele zum Lachen gebracht und zahlreiche neue Fragen aufgeworfen hatte. Und es würde weitere Fragen geben, über die man sich die Köpfe würde heißreden können, und danach noch mehr Fragen. Fragen vom Anbeginn der Zeit - wann immer das gewesen war - bis zum Ende. Von Asche? zu Asche?
VIELLEICHT, sagte der Hochgeachtete Rabbi und erhob Hände und Stimme noch höher, BRAUCHEN WIR DIESE ANGELEGENHEIT GAR NICHT ZU KLÄREN. WIR KÖNNTEN EINFACH KEINEN TOTENSCHEIN AUSFÜLLEN. WIR KÖNNTEN DEN LEICHNAM ORDENTLICH BEERDIGEN, ALLES VERBRENNEN, WAS ANS UFER GESPÜLT WIRD, UND DAS LEBEN IM ANGESICHT DIESES TODES EINFACH WEITERGEHEN LASSEN?
Aber wir brauchen eine Proklamation, sagte Froida J., der Bonbonmacher.
Nicht, wenn das Schtetl proklamiert, keine Proklamation zu erlassen, berichtigte ihn Isaak.
Vielleicht sollten wir versuchen, uns mit seiner Frau in Verbindung zu setzen, sagte die trauernde Schanda.
Vielleicht sollten wir anfangen, die Überreste einzusammeln, sagte Eliezer Z. der Zahnarzt.
Und im Geflecht der Diskussion ging die Stimme von Hannah, die unter dem fransenbesetzten Flügel des Gebetsmantels ihres Vaters hervorlugte, beinahe unter.
Ich sehe etwas.
WAS?, fragte ihr Vater und brachte die anderen zum Schweigen. WAS SIEHST DU?
Da drüben, sagte sie und zeigte auf das schäumende Wasser.
Inmitten von Schnur und Federn, umringt von Kerzen und durchweichten Streichhölzern, von Krabben, Schachfiguren und seidenen Quasten, die sich wie Quallen wiegten, war ein Baby, ein Mädchen, noch von Schleim überzogen und rosig wie das Innere einer Pflaume.
Die Zwillinge versteckten sich wie Geister unter dem Tallith ihre Vaters. Das in den versunkenen Nachthimmel gehüllte Pferd auf dem Grund des Flusses schloss die müden Augen. Die prähistorische Ameise in Jankels Ring, die schon lange bevor die erste Planke von Noah festgehämmert worden war, reglos im honigfarbenen Bernstein gelegen hatte, verbarg schamvoll den Kopf zwischen ihren vielen Beinen.
Einige Tage später gelang es Bitzl Bitzl R. mit Hilfe einiger starker Männer aus Kolki, den Wagen zu bergen, und in seinen Reusen verfing sich mehr denn je. Doch sosehr man auch in den Überresten suchte - einen Leichnam fand man nicht. In den folgenden hundertfünfzig Jahren veranstaltete das Schtetl jährlich einen Wettkampf, bei
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