Alles ist erleuchtet
der Thoraschrein befand sich genau über dieser Grenze, damit es in jedem Teil des Schtetls eine Thorarolle gab.) Wenn sich das Verhältnis zwischen Heiligem und Weltlichem verschob - gewöhnlich um nicht mehr als eine Haaresbreite in diese oder jene Richtung, ausgenommen jene außergewöhnliche Stunde im Jahr 1764, als das Schtetl unmittelbar nach dem Pogrom der Aschebestreuten Häupter ganz und gar weltlich war -, verschob sich auch die Grenzlinie, mit Kreide vom Wald von Radziwill bis zum Fluss gezogen, und die Synagoge wurde angehoben und versetzt. 1783 brachte man Räder an dem Gebäude an, um beim ständigen Hin und Her des Schtetls zwischen jüdischem und menschlichem Leben weniger Kraft zu vergeuden.
Mir scheint, es hat einen Unfall gegeben, keuchte Schloim W., der bescheidene Antiquitätenhändler, der von Almosen leben musste, weil er seit dem allzu frühen Tod seiner Frau nicht mehr imstande war, sich von seinen Kandelabern, Figürchen oder Stundengläsern zu trennen.
Woher weißt du das?, fragte Jankel.
Bitzl Bitzl hat es mir zugerufen, als er mit seinem Boot zum Haus des Hochgeachteten Rabbis fuhr. Ich habe auf dem Weg hierher an so viele Türen wie möglich geklopft.
Gut, sagte Jankel. Wir brauchen eine Schtetl-Proklamation.
Ist er denn wirklich tot?, fragte jemand.
Bestimmt, versicherte Sofiowka. So tot, wie er war, bevor seine Eltern sich kennen lernten. Vielleicht sogar noch toter, denn damals war er wenigstens ein Schuss im Schwanz seines Vaters und eine Leere im Bauch seiner Mutter.
Hast du versucht, ihn zu retten?, fragte Jankel.
Nein.
Halt ihnen die Augen zu, sagte Schloim zu Jankel und zeigte auf die Mädchen. Er zog sich rasch aus - dabei entblößte er einen Bauch, der größer war als die meisten anderen, und einen Rücken, der mit dichten Locken aus schwarzem Haar bedeckt war - und sprang ins Wasser. Federn strichen auf den Schwingen der Strudel über ihn hinweg. Lose Perlen und zahnfleischlose Zähne. Blutgerinnsel, Wein und zersplitterte Kristalllüster. Die aufsteigenden Wracktrümmer wurden immer dichter, bis Schloim die Hände nicht mehr vor Augen sehen konnte. Wo? Wo?
Hast du ihn gefunden?, rief Isaak der Rechtsgelehrte, als Schloim schließlich wieder auftauchte. Wissen wir eigentlich, wie lange er schon dort unten ist?
War er allein oder war seine Frau bei ihm?, fragte die trauernde Schanda T., Witwe des verstorbenen Philosophen Pinchas T., der in seiner einzigen bedeutenden Abhandlung »An den Staub: Vom Menschen bist du, und zum Menschen sollst du werden« argumentierte, es sei theoretisch möglich, das Leben und die Kunst gegeneinander auszutauschen.
Ein starker Wind fegte durch das Schtetl und entlockte ihm ein Pfeifen. Jene, die in trüb beleuchteten Kammern schwer verständliche Texte studierten, sahen auf. Liebende, die Sühneopfer darbrachten und Versprechen, Verbesserungsvorschläge und Ausflüchte machten, verstummten. Mordechai C., der einsame Kerzenzieher, tauchte die Hände in eine Schüssel mit warmem, blauem Wachs.
Er hatte eine Frau, warf Sofiowka ein und schob die linke Hand tief in die Hosentasche. Ich erinnere mich gut an sie. Sie hatte so üppige Brüste. Gott im Himmel, was für herrliche Brüste sie hatte! Wer könnte die je vergessen? Sie waren...oh Gott, sie waren so herrlich. Ich würde alle Worte, die ich seither gelernt habe, dafür eintauschen, wieder jung zu sein - ja, oh ja -und an diesen Brüsten saugen zu dürfen. Ja, das würde ich tun! Das würde ich tun!
Woher weißt du das alles?
Ich bin als Kind einmal nach Rowno gefahren, weil ich für meinen Vater dort etwas erledigen sollte. Ich war im Haus dieses Trachim. Sein Nachname liegt mir auf der Zunge, aber ich weiß genau, dass er Trachim mit I hieß und dass er eine junge Frau mit herrlichen Brüsten, eine kleine Wohnung voller Nippes und eine Narbe vom Auge bis zum Mund oder vom Mund bis zum Auge hatte. Das eine oder das andere.
KONNTEST DU SEIN GESICHT SEHEN, ALS ER VORBEIFUHR?, fragte der Hochgeachtete Rabbi mit lauter Stimme, während seine Töchter flink unter den beiden Enden seines Gebetsmantels Zuflucht suchten. DIE NARBE?
Und dann - oijoijoi - habe ich ihn wiedergesehen, als ich ein junger Mann war, der versuchte, in Lwow sein Glück zu machen. Wenn ich mich recht erinnere, lieferte Trachim Pfirsiche - oder vielleicht waren es auch Pflaumen - in ein Haus voller Schulmädchen, das gegenüber lag. Oder war er ein Briefträger? Ja, es waren Liebesbriefe.
Natürlich ist es
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