Alles über Sally
Innenleben macht neugierig, wenn einer einen Gips trägt. Es ist ungerecht, Alfred, aber mit so einem Gips ist eindeutig mehr Staat zu machen als mit einem Stützstrumpf.«
Um seine Erregung zu verbergen, blieb Alfred für zwei Sekunden über sein Tagebuch gebeugt, als müsse er jedeBewegung seiner Hände genau beobachten. Schließlich schaute er auf und wackelte mit den Zehen, die aus dem Gips ragten. Für einen Augenblick kam ihm sein Bein wie etwas Übermütiges vor, das man vorsichtshalber eingesperrt hat.
»Wenn du ihn in der kommenden Woche herunterbekommst, ich glaube, du wirst ihn vermissen«, sagte Sally.
Alfred schaute ihr dabei zu, wie sie mit dem Besen ungestüm die Ecke ausfegte, wo der Christbaum gestanden war. Sally hielt inne und blickte zur Bestätigung ihrer Worte zu ihm hin.
»Ich werde ihn nur wegen deiner Zeichnungen vermissen«, rechtfertigte er sich. »Und wegen dem, was die Kinder draufgeschrieben haben.«
»Du kannst ihn ja mit nach Hause nehmen. Das Haus hat eine robuste Verdauung.«
Sally kehrte die Nadeln auf, Alfred wusste, die Nadeln waren nicht das einzige, was auf die Schippe genommen wurde, aber er wollte nicht vorwurfsvoll sein, er konnte den Ansatz ihrer Brüste sehen, als Sally sich vorbeugte. Er tat so, als schaute er nicht hin, er machte seine Beinübungen, aber ohne Sally aus den Augen zu lassen. Die Beinübungen waren gut für die Muskulatur und gut für die Zirkulation, drinnen floss genauso echtes Menschenblut wie in Sallys Dekolleté.
Alfred zog kurz die Unterlippe ein, als erinnerte er sich an etwas.
»Es wäre in diesem Haus nicht das erste Stück aus Gips«, sagte er beiläufig. »Es gibt auch die Handabdrücke der Kinder, als sie klein waren.«
Mit der Kehrschaufel voller Nadeln ging Sally Richtung Küche. Jetzt konnte Alfred wieder die harschen und drängenden Töne des Cellos hören, dazu das Klopfen von Emmas Ferse, es klang, als wäre ihr Bein aus Holz, ein schlagendes Geräusch, bumm! bumm! Oder wie fernes Teppichklopfen, große, schwere Teppiche, die unter den Schlägen fast nicht nachgeben, bumm! bumm! Das ging so lange, bis die Tür wieder geschlossen war.
Die Hände flach in ihre hinteren Weichen gestützt, stellte sich Sally vor die Glastür zur Terrasse. Sie blickte hinaus. Ein Böllerkrachen hallte durch das Grau der Vorstadt, es klang langweilig.
»Lässt du deine Varizen operieren?« fragte sie.
Die üppigen Blumenranken, die Sally auf den Gips gemalt hatte, begannen sich zu winden. Sallys Frage verwirrte Alfred, er spürte wieder, dass er ein Mensch mit vielen verwundbaren Stellen war.
Vielleicht sind die Krampfadern ja einfach verschwunden, dachte er. Aber das sagte er natürlich nicht.
»Was denkst du?« fragte Sally.
»Dass die Krampfadern vielleicht einfach verschwunden sind.«
»Das wäre eine Lösung ohne Aufwand«, sagte Sally mit ruhigem Spötteln. »Ich würde mich darüber freuen.«
»Wahrscheinlich sind sie halt leider noch da.«
»Das glaube ich auch«, gab sie zur Antwort. »Sehr wahrscheinlich sind sie noch da.«
Sie schaute hinaus in den Garten. Die regengrauen Nachbarhäuser hinter den kahlgefegten Bäumen traten vor und zurück, je nach Dichte der Atmosphäre, die ebenfallsregengrau war, aber ohne Regen, für Regen war es zu kalt.
»Du bist doch am Land aufgewachsen, Alfred«, sagte Sally in einem um Sachlichkeit bemühten Ton. »Du bist ein in die Wegwerfgesellschaft verirrter Bauernbub. Selbst wenn du dir ein neues Bein kaufen könntest, würdest du es nicht tun. Aber du kannst das alte reparieren lassen. Das müsste dir liegen.«
Wie nach dem Besuch im Juli das Haus repariert und die Zimmer frisch ausgemalt worden waren. Und auch die Beziehung seit drei Jahrzehnten – immer wieder geflickt.
»Durch geglückte Reparaturen bekommen Dinge einen emotionalen Mehrwert«, sagte Sally. »Schau deine Hosen an. Schau deine Ehe an.«
»Meine Ehe!« sagte Alfred anerkennend. »Die hält etwas aus, interessanterweise.«
Aber natürlich garantierte ihm niemand, dass es in fünf Jahren immer noch so war.
»Du kannst ruhig auch mit deinem Bein ein Einsehen haben«, sagte Sally.
Alfred ließ erneut die Zehen wackeln. Er überlegte, ob seinem Bein durch eine Operation nur zu oberflächlichem Ansehen verholfen würde oder auch die Funktionstüchtigkeit betroffen wäre. Noch sein Vater, da hatte Sally recht, hatte die Verwendungstauglichkeit eines Alltagsgegenstandes höher eingeschätzt als das Aussehen. Heute stellte der
Weitere Kostenlose Bücher