Alles über Sally
so mühsam bin«, sagte sie.
Er betrachtete sie aufmerksam und zog die Luft ein.
»Mühsam, kann sein, wie Hyperion auf Delos den Kynthos ersteigt.«
»Das ist ja beruhigend«, sagte sie.
»So war es auch wieder nicht gemeint«, sagte er.
Sally gab nochmals ein »Mhm« von sich.
Dann schwiegen sie wieder beide.
Alfred kritzelte in sein Tagebuch. Sally schaute zum Fenster hinaus. Fern und dumpf drang Emmas Klopfen durch die Decke, und auch das Geräusch der Vorortebahn war zu vernehmen, mitsamt dem Nachzittern, von dem unklar war, ob man es hörte oder nur im Fußboden spürte wie ein leichtes Erdbeben. Die Katzen stellten die Ohren auf, und auch die Nilpferde stellten die Ohren auf und die Pferde auf der Kohlezeichnung, die im Sommer zum Trocknen an der Wäscheleine gehangen war. Die Pferde hoben ihre Köpfe, dann testeten sie ihre Hufe, bumm! bumm!
Vom Licht war nicht mehr viel übrig. Das Grau machte Alfred schläfrig, nicht schläfrig, sondern dämmrig. Er fühlte sich wach und konzentriert, gleichzeitig drangen die Geräusche des Hauses und die Bilder seiner Imagination mit ungewöhnlicher Intensität auf ihn ein. Er ließ sich vom Strom seiner Phantasien und Ängste davontragen, es störte ihn nicht, dass Sally die Stehlampe neben der Couch anknipste, damit er genug Licht hatte. Auch die Stereoanlage setzte sie in Betrieb, eine CD von Emma im Laufwerk, etwas Klassisches, das Sally nicht kannte. Die Musik ähnelteunverkennbar dem, was Emma die ganze Zeit übte, sehr eindringlich, drängend, bittend und intensiv, als hoffte hier jemand, gerettet zu werden.
Aber klar, Rettung war nicht möglich, allenfalls Aufschub.
Doch in diesem Moment lehnte Sally unbekümmert im Sessel, entspannt wie eine Schiffsreisende bei gutem Wetter. Wenn sie die Augen öffnete, dann nur, um das zu tun, was auch Alfred tat, die Zehen betrachten. Kurz schaute sie zu Alfred hin.
»Diese Jahresrückblicke sind schrecklich«, sagte er. »Ich weiß dann immer nicht, wie ich auf meine umfassende Unwichtigkeit in dem Ganzen reagieren soll.«
Er legte die Beine bequemer hin.
Sally ließ sich mit einer Antwort Zeit.
»Ich bin froh, weil meine Unbedeutendheit auch meine Fehler relativiert«, murmelte sie. »Ein Fehler mehr oder weniger? Welchen Unterschied macht es in hundert Jahren? Keinen sonderlich großen.«
Wir sind nur aufbereiteter Sternenstaub, dachte sie, Atome von Gehalt, die für eine begrenzte Zeit eine Einheit bilden und sogar einen Namen bekommen, Alfred, Sally, für siebzig oder achtzig Jahre, wenn man Glück hat. Dann fallen die Einheiten wieder auseinander.
»Bei mir ist es umgekehrt«, bekannte Alfred. »Es erzeugt ein Gefühl von Unzulänglichkeit. Ich glaube, es gibt da einen Rest Utopie, der nicht aufgebraucht ist, ich meine, dass es möglich sein sollte, Spuren zu hinterlassen.«
Ihn ansehend, dachte Sally daran, wie sehr sie ihngeliebt hatte und dass sie ihn weiterhin liebte, und wenn nicht in diesem Augenblick, dann gemessen am Jahresmittel, das sie übermorgen nehmen konnte. Ihre Zuneigung nahm zu und wieder ab, das war wohl nichts wirklich Besonderes.
»Dein Einfluss auf mich ist beträchtlich«, sagte sie. Sie blickte weiterhin zu ihm hin, als wollte sie sichergehen, dass er sie nicht missverstand. Sein Gesicht aber sagte, dass ihn ihre Bemerkung freute. Jeder Mensch braucht Anerkennung, das wusste Sally von der Schule, man tippte einen Schüler ein wenig an, schon blühte er für ein oder zwei Tage auf.
»Nur schade, dass unser Angriff auf das bürgerliche Leben kaum zehn Jahre gedauert hat«, sagte sie.
Es war erstaunlich, wie man mit einem einzigen Satz über so lange Zeiträume hinwegschweifen konnte. All die vielen Kleinigkeiten, die mit langen, festen Fäden verbunden waren, regten sich leise.
»Ich glaube, das liegt daran, dass sich neue Ansätze, wenn sie brauchbar sind, immer verbürgerlichen. Wie sich auch, was weiß ich, der Surrealismus verbürgerlicht hat. Oder Mick Jagger.«
Alfred sagte es gelassen, ohne besondere Betonung.
Und vielleicht war was dran. Vielleicht stimmte es, dass alles Friedliche eine unruhige Vergangenheit besitzt. Vielleicht wussten sie es nur nicht, weil sie so dumm waren wie das Leben selbst.
Gustav ist jetzt neun Zentimeter größer als ich, dachte Sally, Alice fünf Zentimeter, und wenn sie den Job bekommt, der ihr angeblich versprochen worden ist, verdientsie auf ihrer ersten Stelle mehr als ich jetzt. Und Emma ist Emma, tatsächlich, manche Dinge ändern sich
Weitere Kostenlose Bücher