Alles zerfällt: Roman (German Edition)
klassischem Roman Herz der Finsternis . Achebe vertrat nicht etwa die Meinung, dass Conrad über den Rassismus seiner Zeit nicht hätte schreiben dürfen, sondern dass er es versäumt habe, jene Weltsicht als Autor zurückzuweisen.
Das seltsame Gefühl, das man hat, wenn man sich in der Literatur verzerrt widergespiegelt sieht – sich eigentlich darin gar nicht wiederfindet –, ist Teil meiner eigenen Kindheit. Ich wuchs in den 1980er Jahren in der nigerianischen Universitätsstadt Nsukka auf und las eine Menge britischer Kinderbücher. Meine frühen Schreibversuche ahmten meinen Lesestoff nach: Alle meine Charaktere waren weiß, und meine Geschichten spielten ausschließlich in England. Dann las ich Alles zerfällt . Es war eine auf großartige Weise schockierende Entdeckung, und das traf auch auf Arrow of God zu, das ich kurz danach las; bis dahin hatte ich nicht konkret gewusst, dass Menschen wie ich in der Literatur vorkommen konnten. Hier war ein Buch, das selbstbewusst afrikanisch war, das auf schmerzhafte Weise vertraut, aber auch exotisch war, weil es das Leben meines Volkes vor hundert Jahren ganz genau schilderte. Weil ich in einem nigerianischen System erzogen worden war, das mir wenig über meine vorkoloniale Vergangenheit vermittelte, weil ich mir zum Beispiel nicht annähernd vorstellen konnte, wie das Leben 1890 in meinem Teil der Welt ausgesehen hatte, wurden Achebes Romane für mich eigenartig persönlich. Alles zerfällt war nicht mehr ein Roman über einen Mann, dessen übersteigerte Männlichkeit und allumfassende Furcht vor Schwäche es ihm unmöglich machen, sich an die Veränderungen in seiner Gesellschaft anzupassen, er wurde zur Schilderung des Lebens, das mein Urgroßvater geführt haben könnte. Arrow of God handelte nicht mehr nur von der Einsetzung von Häuptlingen durch die britische Kolonialverwaltung und den verbundenen Schicksalen zweier Männer – der eine ein Igbo-Priester, der andere ein britischer District Commissioner –, es wurde zur Geschichte des Heimatortes meiner Vorfahren zu Großvaters Zeiten. Und No Longer at Ease ging über die Geschichte eines gebildeten jungen Nigerianers hinaus, der mit dem Druck der neuen urbanen Erwartungen in Lagos kämpfte, und wurde zur Geschichte der Generation meines Vaters.
Später, als Erwachsene, die mit Darstellungen Afrikas in nichtafrikanischer Literatur konfrontiert wurde – Afrika als Ort ohne Geschichte, ohne Menschlichkeit, ohne Hoffnung – und bei der sich daraufhin jenes spezielle Gefühl der Verletzlichkeit und der Defensive einstellte, das vom Wissen herrührt, dass meine Menschlichkeit angezweifelt wurde, wandte ich mich erneut Achebes Romanen zu. In der schlichten, reinen Poesie von Alles zerfällt , im Humor und in der Komplexität von Arrow of God entdeckte ich eine sanfte Rüge: Schenke den Geschichten anderer über dich ja keinen Glauben.
Angesichts der Zeit und der Umstände, unter denen Chinua Achebe schrieb, mag der Autor geahnt haben, dass sein Werk Literatur und Geschichte für eine Generation von Afrikanern werden würde. Er schrieb, dass er zufrieden wäre, wenn seine Romane nicht mehr erreichten, als seine Leser zu lehren, dass ihre Vergangenheit »keine lange Nacht voll Brutalität gewesen war, aus der die ersten Europäer sie im Auftrag Gottes erlösten«. Gelegentlich hat er in seiner Prosa eine etwas anthropologische Stimme angenommen: »Zum Glück beurteilten dortzulande die Leute einen Mann nach seinem eigenen Wert, nicht nach dem seines Vaters«, wird uns in Alles zerfällt erzählt. Bemerkenswert ist jedoch, dass Achebes Kunst nie unter dieser Bürde der Verantwortung zusammenbricht. Ein Leser, der einfache Antworten von Chinua Achebes Werk erwartet, wird enttäuscht sein, weil er ein Schriftsteller ist, dem Ehrlichkeit und Vieldeutigkeit wichtig sind und der jede Situation in ihrer Komplexität schildert. Kritik an den Auswirkungen des Kolonialismus auf die Igbo ist seinem Werk immanent, aber ebenso ein Hinterfragen der inneren Struktur der Igbo-Gesellschaft. Als Nwoye, Okonkwos Sohn in Alles zerfällt , mit seiner Familie und Gemeinschaft bricht, um sich den Christen anzuschließen, ist das ein Sieg für die Europäer, doch auch ein Sieg für Nwoye, der Frieden findet und ein Ventil für die tiefe Enttäuschung, die er schon lange bezüglich der Traditionen seines Volks empfunden hat. Als eine Romanfigur sagt: »Der weiße Mann ist listenreich. Er kam ruhig und in Frieden mit seinem Glauben.
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