Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)
uns ein, denen Trauer und Scham ins Gesicht geschrieben stand. Der Krach der detonierenden Bomben und der Donner der Geschütze kamen immer näher. Zusammen mit unseren Nachbarn hoben wir an dem Flusshang einen Graben aus, von dem aus ich zum ersten Mal eine Katjuscha [3] -Salve sah: Ein entsetzliches Pfeifen begleitete die Feuerpfeile, die über den Himmel flogen …
Und dann wurde es auf einmal still – für volle zwei Tage. Am 3 . August 1942 , genau ein Jahr, nachdem mein Vater in den Krieg gezogen war, tauchten Motorräder mit deutschen Kundschaftern auf. Innerhalb von drei Tagen zogen die deutschen Truppen in Priwolnoje ein. Um sich vor den Bombenangriffen zu schützen, tarnten sie sich und fällten alle unsere Gartenbäume, die wir in jahrzehntelanger Arbeit hochgezogen hatten.
Von Rostow drangen die Deutschen bis zur Hauptstadt von Kabardino-Balkarien Naltschik vor, ohne auf Widerstand zu stoßen. Die sowjetischen Truppen waren in Auflösung begriffen. Aber hinter Naltschik traten Sperrabteilungen in Aktion, zu deren Aufgabe die Umsetzung des Befehls Nr. 227 von Stalin gehörte: »Keinen Schritt zurück.« Aus den zurückweichenden Soldaten wurden in Windeseile Einheiten gebildet, die sofort an die vorderste Linie geschickt wurden. Durch den Großeinsatz bei der Stadt Ordschonikidse (heute: Wladikawkas) wurden die deutschen Truppen, die an das Öl von Baku herankommen wollten, gestoppt, und diesmal endgültig.
Als die deutschen Einheiten nach Osten weiterzogen, ließen sie eine kleine Garnison in Priwolnoje zurück, die später von einem Trupp abgelöst wurde, dessen ukrainischer Dialekt mir in Erinnerung geblieben ist. Nun hatte das Leben unter fremder Besatzung begonnen.
Ein paar Tage später kehrte Großmutter Wasilisa zurück. Sie war mit Großvater fast bis Stawropol gelangt, aber dort holten die angreifenden deutschen Truppen sie ein. Großvater hatte querfeldein, durch Schluchten und über Maisfelder die Frontlinie überschreiten können, aber Großmutter war mit ihren Habseligkeiten zu uns zurückgekehrt. Wohin auch sonst?
Die Deserteure aus unserer Armee krochen aus dem Untergrund. Der größte Teil von ihnen kollaborierte mit den Deutschen, in der Regel als Geheimpolizisten. Einmal kamen sie zu uns und führten eine Hausdurchsuchung durch. Ich weiß nicht, was sie suchten. Danach nahmen sie im Pferdewagen Platz und befahlen Großmutter, ihnen aufs Revier zu folgen. Sie musste durch das ganze Dorf. Alle sollten sehen: die Frau des Kolchosvorsitzenden! Lange wurde sie verhört. Ich weiß nicht, was sie herausfinden wollten und was sie hätte sagen können. Alles lag auf der Hand: Ihr Mann war Kommunist, der Kolchosvorsitzende war in der Evakuation, Sohn und Schwiegersohn kämpften an der Front.
Wenn Mutter vom Arbeitsdienst für die Deutschen zurückkam, erzählte sie wiederholt von den Ängsten einiger Dorfbewohner: »Das ist nicht wie bei den Roten!« Gerüchte über Massenerschießungen in den Nachbarstädten kamen auf, Gerüchte über Autos, die die Menschen mit Gas umbrachten (nach der Befreiung bestätigte sich das alles). Zigtausende Menschen, größtenteils Juden, wurden bei der Stadt Mineralnyje Wody erschossen. In Priwolnoje verbreiteten sich Gerüchte über die bevorstehende Abrechnung mit den Familien der Kommunisten.
Unserer Familie war klar, dass wir als Erste drankommen würden. Mutter und Großvater Andrej versteckten mich auf einer Farm hinter dem Dorf, wo Großvater arbeitete. Die Strafaktion war für den 26 . Januar 1943 angesetzt, doch am 21 . Januar befreiten unsere Truppen Priwolnoje.
Ich habe diese Tage in Erinnerung behalten. Wir sind wohl noch relativ glimpflich davongekommen. Das ist auch das enorme Verdienst unseres Dorfältesten, des hochbetagten Sawatej Sajzew oder »Großvaters Sawka«, wie wir ihn nannten. Er hatte sich lange und hartnäckig geweigert, die Funktion des Ältesten zu übernehmen, aber die Dorfbewohner überredeten ihn, denn er war wenigstens einer von uns. Wir im Dorf wussten, dass Sajzew alles versuchte, um die Menschen zu retten. Aber als die Deutschen verjagt waren, wurde er wegen Hochverrat zu zehn Jahren Lager verurteilt. Wie viele Eingaben meine Dorfgenossen auch machten, in denen stand, er habe das Amt des Ältesten nicht freiwillig übernommen, er habe Leuten das Leben gerettet, nichts half. Großvater Sawka starb als »Verräter« im Gefängnis.
Ich werde nie vergessen, wie wir uns mitten in der Nacht aus dem Haus schlichen, meine
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