Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)
ausgehalten hatten. Nicht zu beschreiben: verweste Körper, Schädel in verrosteten Stahlhelmen, aus den vermoderten Feldblusen ragten gebleichte Hände. Daneben ein leichtes Maschinengewehr, Granaten, Patronenhülsen. So lagen sie da, unbeerdigt, in der dreckigen Brühe der Schützengräben und Bombentrichter, und glotzten uns aus ihren riesigen schwarzen Augenhöhlen an …
Die anonymen Soldaten wurden in einem Massengrab beerdigt. Wir haben sie nie als fremde, nicht zu uns gehörige Menschen betrachtet. Im Zentrum von Priwolnoje gibt es jetzt einen kleinen Obelisken. Darauf stehen die Namen derer, die nicht aus dem Krieg zurückgekehrt sind. Auch Gorbatschows sind darunter.
Als der Krieg zu Ende ging, war ich vierzehn. Bis heute sehe ich das verwüstete Nachkriegsdorf vor mir. Statt Häusern Lehmhöhlen, überall Zeichen der Verwahrlosung, der Armut. Meine Generation ist die Generation der Kriegskinder. Wir sind gebrannte Kinder, der Krieg hat auch unserem Charakter und unserer ganzen Weltanschauung den Stempel aufgedrückt.
Was wir in unserer Kindheit durchgemacht haben, ist wohl die Erklärung dafür, warum gerade wir Kriegskinder die Lebensweise von Grund auf ändern wollten. Wir Jungen, auf deren Schultern die Verantwortung für das Überleben der ganzen Familie und für das eigene Durchkommen lag, wurden von einem Tag auf den anderen erwachsen. Der Zusammenbruch des Lebens, ja der Welt, den wir sahen und an dem wir beteiligt waren, hat uns direkt aus der Kindheit in das Erwachsenenleben katapultiert. Wir haben uns weiter am Leben gefreut wie Kinder, wir haben weiter die Spiele von Heranwachsenden gespielt, aber irgendwie blickten wir schon halb mit den Augen von Erwachsenen auf unsere Spiele.
Schul- und Nachkriegsjahre
Den Unterricht in der Schule nahm ich 1944 nach zweijähriger Unterbrechung wieder auf. Ich hatte keinerlei Lust zum Lernen. Nach all dem, was ich erlebt hatte, erschien es mir zunächst als nicht ernst zu nehmende Beschäftigung. Außerdem hatte ich nichts Rechtes anzuziehen, um zur Schule zu gehen.
Vater hatte Mutter einen Brief geschickt, in dem stand: »Verkauf alles, kauf ihm Kleidung, Schuhe, Bücher, Michail muss unbedingt lernen.«
Aber schon am ersten Tag blieb ich nicht bis zum Ende des Unterrichts. Zu Mutter sagte ich: »Ich gehe nicht mehr in die Schule.« Sie verließ das Haus und kehrte abends mit einem Stapel Bücher zurück. Nachdem ich einmal angefangen hatte zu lesen, las ich bis in die Nacht hinein. Am Morgen stand ich auf und ging zur Schule.
Nicht ohne Bewegung denke ich an die Schule jener Jahre, an die Lehrer und Schüler. Die Schule war in mehreren Gebäuden des Dorfes untergebracht, die zu ganz anderen Zwecken gebaut worden waren. Sie hatte eine lächerliche Anzahl Schulbücher, ein paar Landkarten, Anschauungsmaterial und mühsam aufgetriebene Kreide. Das war alles. Der Rest musste von Lehrern und Schülern in Handarbeit hergestellt werden. Hefte gab es überhaupt nicht. Ich behalf mir mit Vaters Büchern über die Mechanisierung. Auch Tinte machten wir selbst. Für Heizstoff musste die Schule selber sorgen, also hielt sie sich Pferde und ein Fuhrwerk. Ich weiß noch, wie die ganze Schule im Winter die Pferde vor dem Verhungern zu retten suchte. Sie waren so ausgezehrt und entkräftet, dass sie sich nicht auf den Beinen halten konnten. Woher wir nicht alles Futter für sie anschleppten! Das war gar nicht so einfach, denn das ganze Dorf hatte die gleiche Sorge: das private Vieh zu retten. Von den Viehhöfen der Kolchose, von denen jeden Tag Kadaver abtransportiert wurden, will ich erst gar nicht reden.
Noch eine Erinnerung: Nach seiner Genesung und schon nach Kriegsende, im Sommer 1945 , führte Vater eine Dienstreise in unsere Nähe, und er bat, seine Familie für zwei Tage besuchen zu dürfen. Er erhielt die Erlaubnis, und wir trafen uns.
Ich saß im Hof und bastelte etwas. Da schrie jemand: »Mischa, da kommt dein Vater!« Das kam so unerwartet, dass ich ganz verwirrt war. Aber dann lief ich ihm entgegen.
Ein paar Schritte voneinander entfernt blieben Vater und ich stehen, wir blickten uns an. Vater hatte sich sehr verändert, er war in Uniform, trug Orden, ich war groß geworden. Aber die Hauptsache war: Vater sah, wie dünn und abgerissen ich aussah. Da hörte ich auf einmal seine Worte, die er so verbittert aussprach, dass ich sie nicht vergessen kann: »Und dafür sollen wir gekämpft haben?!«
Unsere Dorfschule hatte acht Klassen. Es mussten
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