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Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)

Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)

Titel: Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michail Gorbatschow
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Mutter und ich. Ich sollte mich auf der Farm verstecken, wo Großvater Andrej arbeitete, ein paar Kilometer vom Dorf entfernt. Überall war Schlamm. Das kommt in der Region Stawropol häufig vor, sie liegt ja im Süden Russlands. Anfangs schien uns, wir seien auf dem richtigen Weg, aber dann verirrten wir uns. Pechschwarze Nacht, nirgends ein Licht, kein Weg, nur Finsternis. Wir gingen und gingen, in der Hoffnung, auf irgendetwas zu stoßen, und tauchten immer weiter ein in die Finsternis. Auf einmal flammte in dieser Winternacht ein Blitz auf, und es donnerte. Die Finsternis lichtete sich für einen Augenblick, und wir sahen in der Nähe die Farm. Dort versteckte ich mich dann für ein paar Tage.
    Die Deutschen traten in aller Eile den Rückzug an. Aus Angst, wie bei Stalingrad in einen Kessel zu geraten, zog ihr Kommandostab die Truppen vom Nordkaukasus schleunigst ab. Wie begeistert wir die Einheiten der Roten Armee begrüßten! Wir mussten uns nicht mehr vor den »Junkers« fürchten, die aus der Luft unsere Truppenbewegungen verfolgten …
    Noch einmal rückte die Front in unsere Gegend vor, diesmal auf dem Weg nach Westen. Wieder mussten wir von vorn anfangen, die Kolchose wieder einrichten. Aber wie? Alles war zerstört, es gab keine Maschinen, kein Vieh, kein Saatgut. Der Frühling kam. Wir pflügten die Erde mit Kühen aus dem eigenen Bestand.
    Dann sammelten wir Saatgut, jeder lieferte so viel ab, wie er konnte. Die Ernte des Jahres 1943 war natürlich schlecht. Woher hätte sie auch kommen sollen! Alles, was wir angebaut hatten, lieferten wir dem Staat für die Front ab. Im Winter und Frühling 1944 kam der Hunger. Meine Mutter fuhr mit anderen Dorfbewohnern zusammen an den Kuban. Es hieß, man könne dort Mais kaufen. Wir holten Vaters Sachen aus der Truhe: zwei Paar neue Chromlederstiefel und einen Anzug, den er kein einziges Mal getragen hatte, um die Sachen gegen Getreide einzutauschen. Als Mutter losfuhr, maß sie mir für jeden Tag eine Handvoll Mais ab, aus den letzten Beständen, die wir im Haus hatten. Ich mahlte die Maiskörner und kochte mir aus dem Mehl einen Brei.
    Eine Woche verging, zwei Wochen, immer noch war Mutter nicht zurück. Erst ein paar Tage später tauchte sie auf und brachte einen Sack Mais mit. Der war unsere Rettung. Und dann kalbte auch noch unsere Kuh, sodass wir sowohl Milch als auch Mais hatten. Das war damals eine Menge wert. In anderen Familien hatten sie zu wenig zu essen und waren aufgeschwemmt vor Hunger. Häufig kamen befreundete Nachbarkinder zu uns und standen schweigend an der Tür. Mutter stöhnte ein wenig, bevor sie sich erweichen ließ und ihnen etwas zu essen gab.
    Wie ein Gottesgeschenk gab es im Frühling zu unser aller Freude Regenschauer. Auf dem Feld und im Gemüsegarten, überall begann es zu sprießen. Auch diesmal war Mutter Erde unsere Rettung.
    Im April 1943 starb die Mutter meines Vaters, Großmutter Stepanida. Sie starb langsam, unter entsetzlichem Leiden und in fürchterlicher Sorge um ihren Sohn. Es war noch kein Brief von der Front gekommen, buchstäblich ein paar Tage nach ihrem Tod traf er ein. Großmutter Stepanida hatte Großvater sechs Kinder geboren. Drei von ihnen waren 1933 verhungert. Im Unterschied zu Großvater Andrej war sie herzensgut und fürsorglich: Sie hatte mit allen Mitleid, besonders mit kleinen Kindern. Ihre älteste Tochter, meine Tante Nastja, blieb allein mit drei Kindern zurück, als ihr Mann an die Front musste. Wie sehr sich Großmutter um die Enkel kümmerte! Alle überlebten und wurden groß, während ihr Vater an der Front umkam. Großmutter Stepanida und ich waren Freunde. Ich hatte Glück.
    Wir bekamen nun oft Briefe von Vater. Alles, was wir brauchten, war: Wir sind am Leben, er ist am Leben. Mutter dankte dem Herrgott. In diesen schwierigen, schrecklichen Tagen dachten die Leute auf einmal wieder an Gott.
    Ende des Sommers 1944 kam ein rätselhafter Brief. Er enthielt Papiere, Familienfotos, die Vater, als er an die Front musste, mitgenommen hatte, und eine kurze Meldung, Starschina [4] Sergej Gorbatschow sei den Heldentod in den Karpaten gestorben.
    Als ich Präsident der UDSSR wurde, machte mir der Verteidigungsminister Jasow ein einzigartiges Geschenk: Er überreichte mir ein Buch über die Truppenteile, bei denen mein Vater in den Kriegsjahren gekämpft hatte. Mit großer Erregung habe ich damals und auch heute wieder dieses Buch gelesen. Mir wurde noch deutlicher klar, wie schwer der Weg zum Sieg war und

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