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Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)

Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)

Titel: Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michail Gorbatschow
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noch ein paar Jahre ins Land gehen, bis in Priwolnoje endlich eine moderne Mittelschule gebaut wurde. Damals musste man noch in die Kreisstadt fahren, um die neunte und zehnte Klasse abzuschließen. Wie die anderen Kinder aus meinem Dorf wohnte ich zur Miete und ging ein Mal pro Woche etwas zu essen einkaufen, sodass ich zu dieser Zeit durchaus schon ein selbständiger Mensch war. Niemand kontrollierte meine schulischen Fortschritte. Man fand, ich sei alt genug, um meine Aufgaben eigenständig zu erledigen, ohne dass mich jemand dazu anhalten musste. Nur einmal in all den Jahren habe ich meinen Vater mit Mühe und Not dazu gekriegt, zur Elternversammlung der Schule zu gehen.
    Ich lernte leidenschaftlich gern. Ich hatte eine unstillbare Neugier und wollte allem auf den Grund gehen. Mir gefielen Mathematik und Physik. Geschichte und Literatur zogen mich besonders stark an.
    Die Journalisten haben mich oft mit der Frage gelöchert: »Wer hat Sie am stärksten beeinflusst?« Ich habe unterschiedlich darauf geantwortet. Einmal habe ich spontan gesagt: die russische Literatur. Heute bin ich überzeugt, dass das stimmt.
    Schon in unserer Dorfbibliothek von Priwolnoje hatte ich mir einen neuen Band von Belinskij [5] ausgeliehen. Ich war begeistert und las ihn mehrere Male. Als ich zum Studium nach Moskau fuhr, schenkte man mir dieses Buch, weil ich der Erste aus unserem Dorf war, der an der Staatlichen Moskauer Universität angenommen worden war.
    Ansonsten mochte ich natürlich, wie alle Russen, Puschkin, Lermontow, Gogol, später Tolstoj, Dostojewskij, Turgenjew … In meiner Jugend war ich ein Lermontow-Fan, ich hatte viel übrig für seine erhabene Romantik. Dann kam die Zeit der Begeisterung für Majakowskij und Jesenin. Noch heute verblüfft mich, wie diese noch ganz jungen Menschen so weitsichtig sein konnten.
    An Vaters Seite
    Unterdessen forderte die Realität unerbittlich von jedem ihren Tribut, auch von mir. 1945 wurde Vater aus der Armee entlassen und kehrte zu seiner Arbeit als Mähdreschermechaniker zurück. Von 1946 an arbeitete ich jeden Sommer mit, als sein Gehilfe. Die Schule in Priwolnoje war zwei Kilometer von unserer Hütte entfernt. Nach dem Unterricht lief ich zu Großvater Pantelej, der im Dorfzentrum wohnte, zog mir Arbeitskleidung an und rannte zur Maschinen-und-Traktoren-Station, um Vater bei der Instandsetzung des Mähdreschers zu helfen. Abends gingen wir zusammen nach Hause. Ich spüre, wie sehr es mich bewegt, wenn ich das so niederschreibe …
    Dann kam die Getreideernte. Ende Juni bis Ende August musste ich draußen auf dem Feld arbeiten. Selbst wenn die Ernte wegen Regens unterbrochen wurde, blieben wir auf dem Feld, setzten die Maschinen instand und warteten auf heiteres Wetter. An solchen »Ruhe«-Tagen führten Vater und ich viele Gespräche über Gott und die Welt, die Arbeit, das Leben. Unser Verhältnis war nicht nur das von Vater und Sohn, sondern auch eins zwischen Menschen, die eine gemeinsame Aufgabe haben, die zusammen arbeiten. Vater behandelte mich mit Respekt, wir waren richtige Freunde.
    Vater galt als bester Mähdreschermechaniker und lernte mich an. Nach zwei, drei Jahren konnte ich die Mechanik des Mähdreschers allein bedienen. Besonders stolz war ich, dass ich einen Fehler des Mähdreschers sofort dem Gehör nach einordnen konnte. Nicht weniger stolz war ich, dass ich von jeder beliebigen Stelle auf den Mähdrescher klettern konnte, sogar von da aus, wo die Schneideapparate kreischten und sich die Haspel drehte. Wenn man sagt, die Arbeit mit dem Mähdrescher war schwer, ist das eine starke Untertreibung. Schwerstarbeit war das: 14 oder sogar 20  Stunden am Tag bis zur totalen Erschöpfung.
    Die Arbeit der Bauern in der Kolchose war hart. Aber wir hatten nichts davon. Die Rettung war das private Hofgrundstück. Dort baute man an, was irgend ging, aber nicht alles gehörte uns. Jeder Bauernhof war zu allen möglichen Steuern und Lieferungen an den Staat verpflichtet. Noch Jahre später, als ich Vorträge zur Agrarpolitik hielt, mied ich tunlichst scharfe Bewertungen und Formulierungen, weil ich sehr wohl wusste, was das Leben und die Arbeit eines Bauern bedeuten.
    Unsere Familie hatte es leichter als andere: Mechaniker bekamen Geld und Naturalien. Zwar waren diese Löhne erbärmlich, sodass wir das, was wir in unserer Privatwirtschaft angebaut hatten, verkaufen mussten, um davon wenigstens das Nötigste an Kleidung oder Haushaltsgerätschaften kaufen zu können. Dazu

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