Alles zu seiner Zeit: Mein Leben (German Edition)
ersten Unterricht in internationaler Erziehung. Nicht in der Theorie, sondern als fundamentalen Bestandteil des Alltagslebens. Im Nordkaukasus leben Menschen verschiedener Ethnien nebeneinander, manchmal sogar in ein und demselben Dorf, derselben Siedlung, demselben Aul oder derselben Ortschaft. Sie bewahren ihre Kultur und ihre Traditionen, helfen einander aber auch, besuchen sich, bemühen sich, eine gemeinsame Sprache zu finden, und arbeiten zusammen.
Als ich Präsident der UDSSR wurde und es mit den Konflikten der Nationalitäten in meinem Land zu tun bekam, war ich kein Neuling in diesen Fragen: Hier in der geistigen Atmosphäre des Nordkaukasus sehe ich den Ursprung meiner Neigung, in Konfliktfällen nach einem Kompromiss zu suchen; nicht aus Charakterschwäche, wie einige meinen. Rebellen gab es im Nordkaukasus mehr als genug. Gerade hier haben viele Anführer echter Volksbewegungen ihr Heer um sich geschart und ihren Vormarsch begonnen: Kondratij Bulawin, Ignat Nekrassow, Stepan Rasin und Jemeljan Pugatschow. Der Überlieferung nach stammt auch Jermak, der Eroberer Sibiriens, aus dieser Gegend.
Die zahllosen Überfälle von Eroberern in alter Zeit und die langjährigen Kaukasuskriege in jüngster Vergangenheit haben eine Menge Menschenleben gekostet. Auch der Bürgerkrieg des vergangenen Jahrhunderts hat eine furchtbare Blutspur in unserer Gegend hinterlassen. Die Sowjetmacht drang von Rostow aus in Richtung Stawropol vor. Unsere Orte waren die ersten auf diesem Weg, und so formierten sich auf dem Boden meiner Region die ersten Abteilungen der Roten Garde. Bekannt ist Lenins Grußschreiben an die »Front von Medweschje«.
Am 1 . Januar 1918 wurde die Stawropoler Sowjetrepublik ausgerufen und ein Rat der Volkskommissare gebildet. Eine halbe Million Bauern erhielten Land von der neuen Regierung. Man führte den Achtstundentag ein, errichtete eine Arbeiterkontrolle in den Fabriken, und der Schulunterricht war von nun an kostenlos. Doch schon im März kam es im Landkreis Medweschje zu Kämpfen mit Offizierseinheiten des weißen Generals Kornilow und im April mit der Freiwilligenarmee des Generals Alexejew. Im Juli 1918 schloss sich die Stawropoler Sowjetrepublik mit der Kuban- und Schwarzmeerrepublik sowie der Republik Terek zur Sowjetrepublik Nordkaukasus zusammen, die bis zum Januar 1919 Bestand hatte. Danach übernahmen die weißen Generäle Denikin und Schkuro die Macht.
Die Kämpfe im Nordkaukasus wurden mit äußerster Erbitterung geführt. Ein Teil der Kosaken ging in die Rote Armee, sodass in der zweiten Hälfte des Jahres 1918 an der Südfront vierzehn rote Kosakenregimenter im Einsatz waren, die später zu Brigaden und Reiterarmeen umformiert wurden. Wie unsere örtlichen Veteranen versicherten, waren in der berühmten 1 . Reiterarmee von Budjonnyj und Woroschilow nahezu 40 Prozent der Soldaten aus Stawropol. Ein anderer, nicht unbeträchtlicher Teil der Kosaken dagegen schloss sich den Weißen an. Als es am Don zu einer Meuterei kam und General Krasnow mit Hilfe deutscher Truppen eine Militärdiktatur errichtete, wurden 45 000 mit der Sowjetmacht sympathisierende Kosaken erschossen oder erhängt. Aber auch die Roten machten keine Umstände und schreckten nicht vor den brutalsten Maßnahmen zurück, sogar gegen Alte, Frauen und Kinder. Ich erinnere mich noch an folgende Episode, von der General Kniga erzählte.
1967 feierte man den 50 . Jahrestag der Sowjetmacht. Zahlreiche Teilnehmer des Bürgerkriegs fuhren in die Städte und Dörfer und erzählten von ihren Erinnerungen. Besonders viele Begegnungen fanden für die Jugendlichen statt. Auch General Kniga, ein Held des Bürgerkriegs, wurde gebeten, seine Heimat im Norden des Gouvernements aufzusuchen, wo er für die Sowjetmacht gekämpft hatte. Der General erklärte sich einverstanden, bat aber zur allgemeinen Verwunderung um Begleitschutz.
»Wofür brauchst du denn Begleitschutz, Wasilij?«
»Ich brauche ihn unbedingt. Wir haben dort im Bürgerkrieg ein ganzes Dorf niedergesäbelt.«
»Wie – niedergesäbelt?«
»Na so …«
»Alle Dorfbewohner?«
»Möglicherweise eben nicht alle, deshalb denke ich, vielleicht hat einer überlebt und erinnert sich daran.«
Wie oft habe ich zu hören bekommen, beim Übergang zu einer neuen Gesellschaft sei Gewalt nicht nur gerechtfertigt, sondern eine Notwendigkeit. Dass sich Blutvergießen bei Revolutionen tatsächlich oft nicht vermeiden lässt, ist ein Faktum. Aber in der Gewalt ein Allheilmittel
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