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Als der Meister starb

Als der Meister starb

Titel: Als der Meister starb Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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nicht.«
    »Das kannst du auch nicht, Junge«, murmelte er. Er schwieg einen Moment, und wieder schien sein Blick durch mich hindurch zu gehen, als sähe er etwas ganz anderes. »Vielleicht wirst du es später einmal begreifen. Wenn … wenn du das hier überlebst. Ich hätte dich niemals mitnehmen dürfen. Ich hätte dich lassen sollen, wo du warst.«
    »Ich …«
    Andara hob hastig die Hand. Ich verstummte. »Ich kann dem Fluch dessen, was ich getan habe, nicht entrinnen«, fuhr er fort. »Vielleicht muss ich sterben, denn ich bin verantwortlich für den Tod vieler. Aber es geht um dich.«
    »Was meinen Sie damit?«
    Andara lächelte. »Ihr habt geglaubt, ich wäre krank, nicht wahr?«, fragte er. Ich nickte. »Ich war es nicht, Robert. Es war keine Krankheit, die die Kräfte meines Körpers aufzehrte. Ich … habe versucht, großes Unheil zu verhindern, aber ich habe versagt. Was jetzt geschieht, ist eine direkte Folge dieses Versagens.« Er stand auf, öffnete seine Kiste und nahm ein dünnes, in steinhartes braunes Schweinsleder gebundenes Buch hervor. Ich wollte danach greifen, aber er schüttelte rasch und befehlend den Kopf, setzte sich wieder neben mich und legte das Buch behutsam auf seine Knie. »Berühre es nicht«, sagte er. »Berühre nie etwas von dem Inhalt dieser Kiste, oder der Fluch, der auf mir lastet, wird auch dich treffen.«
    Er öffnete das Buch. Ich beugte mich neugierig vor, aber zu meiner Enttäuschung musste ich erkennen, dass ich die Schrift, in der es verfasst war, nicht lesen konnte. Selbst die Form der Buchstaben war mir fremd.
    »In diesem Buch ist alles aufgeschrieben«, sagte er. »Ich wollte es dir später geben, wenn du reif gewesen wärest, es zu verstehen, aber ich werde keine Zeit mehr dazu haben.«
    Ein leiser Schauer überfiel mich bei seinen Worten. Aber ich spürte, dass er recht hatte. Er würde sterben. Ich wusste es mit absoluter Sicherheit, im gleichen Augenblick, in dem er die Worte aussprach.
    »Was ist das für ein Buch?«, fragte ich leise.
    Andara kam nicht dazu, zu antworten.
    Denn in diesem Moment erscholl auf dem Deck über uns ein gellender Schrei!
    Der Wind traf mich wie ein Hieb ins Gesicht, als ich hinter Andara auf das Deck stürmte. Das Schiff zitterte unter meinen Füßen, und über uns blähten sich die Segel, als würden sie jeden Augenblick zerreißen. Der Bug des Schiffes war in einer Wolke schaumig spritzender Gischt verschwunden. Die LADY OF THE MIST pflügte schnell wie ein Dampfschiff durch die Wellen, und der Rumpf und die Masten ächzten unter der Belastung, als wollten sie zerbrechen.
    Andara blieb stehen, ergriff mich mit der Linken am Arm und deutete mit der anderen Hand nach oben. Ich warf den Kopf in den Nacken und folgte seiner Geste.
    Über uns tobte ein Kampf auf Leben und Tod.
    Es waren zwei von Bannermanns Matrosen, Mannings und ein kleinwüchsiger, dunkelhaariger Mann, den ich ein paar Mal während der Reise unten in den Laderäumen des Schiffes gesehen hatte, die in den obersten Rahen des Hauptmastes einen sinnlosen Kampf ausfochten. Der Matrose stand mit hassverzerrtem Gesicht und weit gespreizten Beinen auf der Rahe, so sicher, als hätte er festen Grund unter den Füßen und nicht einen kaum zehn Zentimeter breiten, abgerundeten Balken, an welchem zudem noch das Gewicht des Segels und der Wind zerrten. In seiner rechten Hand blitzte eine kurzstielige, gefährliche Axt, mit der er immer wieder auf seinen Gegner eindrang. Mannings hatte ein Messer, beschränkte sich aber darauf, seinen Gegner auf Distanz zu halten und seinen wütenden Hieben auszuweichen. Es sah aus wie ein bizarrer Drahtseilakt.
    »Barton!« Ich sah auf und gewahrte Bannermann über uns auf dem Achterdeck. Er hielt ein Gewehr in den Armen. »Barton!«, brüllte er noch einmal. »Hör auf! Hör sofort damit auf!«
    Der Matrose wandte kurz den Blick, knurrte eine Antwort und holte zu einem weiteren Axthieb aus. Mannings duckte sich im letzten Moment; das Beil fuhr mit einem schmetternden Schlag in das harte Holz des Hauptmastes, aber Mannings verlor durch die abrupte Bewegung das Gleichgewicht. Eine halbe Sekunde lang ruderte er verzweifelt mit den Armen, dann kippte er nach hinten.
    Ein vielstimmiger Schrei wehte über das Deck der LADY OF THE MIST. Mannings fiel, griff mit einer unmöglich erscheinenden Bewegung hinter sich und bekam die Rahe zu fassen. Seine Beine schlugen gegen das Segel. Er schrie. Seine linke Hand rutschte ab, und ich sah, wie sich sein Gesicht

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