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Als der Meister starb

Als der Meister starb

Titel: Als der Meister starb Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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abermals die Augen und lauschte. »Das Schiff macht keine Fahrt«, sagte er nach einer Weile. »Ich dachte, wir … wir wären in London.«
    »Es ist nicht mehr weit«, wiederholte ich. »Wir liegen im Moment fest, aber sobald der Nebel sich gelichtet hat, segeln wir weiter. Morgen Abend erreichen wir London. Dann bringe ich Sie zu einem guten Arzt.«
    »Nebel?« Montague öffnete abermals die Augen, blickte mich einen Moment lang irritiert an und setzte sich halb auf. Diesmal ließ ich es zu. »Sagtest du Nebel?«
    Ich nickte.
    »Was ist das für ein Nebel?«, fragte er. Seine Stimme klang alarmiert, und in seinen Augen glomm ein Ausdruck auf, der mir ganz und gar nicht gefiel. Für einen winzigen Moment blitzte vor meinem inneren Auge noch einmal das schuppige grüne Ding auf, das ich zu sehen geglaubt hatte, draußen an Deck, und für die Dauer eines Atemzuges verspürte ich noch einmal einen Hauch jener abgrundtiefen Furcht, die die Halluzination in mir ausgelöst hatte.
    Aber ich verscheuchte den Gedanken hastig und versuchte, meiner Stimme einen möglichst beiläufigen Klang zu geben, als ich antwortete: »Nichts Besonderes, Mister Montague. Nebel eben. Bannermann sagt, dass das hier in der Gegend ganz normal ist.« Das war glattweg gelogen, aber ich wollte ihn nicht beunruhigen. Es reichte vollkommen, wenn ich anfing, Gespenster zu sehen.
    »Nebel«, murmelte Montague. Er hob den Kopf und sah zur Decke, und ich hatte das bedrückende Gefühl, dass sein Blick geradewegs durch das massive Holz hindurchging. »Was ist das für ein Nebel?«, fragte er noch einmal. »Wann ist er aufgekommen? Ist etwas Besonderes an ihm?«
    »Heute Morgen«, antwortete ich verwirrt. Ich begriff nicht, worauf er mit seinen Fragen hinauswollte und begann mich insgeheim zu fragen, ob das Fieber bereits seinen Verstand zu umnebeln begann. »Und mir ist nichts Besonderes an ihm aufgefallen. Außer, dass er besonders dicht zu sein scheint.«
    Ein leiser Schauer überfiel mich. Es war etwas Besonderes an diesem Nebel, und ich war plötzlich gar nicht mehr so sicher, dass ich mir das Ding dort draußen wirklich nur eingebildet hatte. Trotzdem schüttelte ich den Kopf. »Es wird alles gut, Mister Montague. Morgen um diese Zeit sind wir in London, und wenn Sie erst einmal wieder festen Boden unter den Füßen haben, werden Sie schnell gesund.« Ich versuchte zu lächeln. »Mich macht diese endlose Reise auch ganz krank. Ich …«
    Seine Hand zuckte unter der Decke hervor und krallte sich in meinen Arm; so fest, dass ich um ein Haar vor Schmerz aufgeschrien hätte. »Der Nebel, Robert!«, keuchte er. »Ich muss alles über ihn wissen! Wann ist er aufgekommen und aus welcher Richtung? Bewegt er sich? Bewegt sich etwas in ihm?«
    Diesmal gelang es mir nicht mehr ganz, mein Erschrecken zu verbergen. »Ich …«
    »Du hast etwas gesehen«, keuchte Montague. »Bitte, Robert, es ist wichtig, für uns alle, nicht nur für mich. Du hast etwas gesehen, nicht wahr?«
    Ich versuchte, meinen Arm loszumachen, aber Montague entwickelte erstaunliche Kräfte. Sein Griff verstärkte sich eher noch.
    »Ich … bin nicht sicher«, antwortete ich. Wahrscheinlich war es nur Einbildung. Diese verdammte Seefahrerei macht uns ja alle krank. Wer nach fünfunddreißig Tagen auf diesem Seelenverkäufer nicht anfängt, Gespenster zu sehen, der ist sowieso verrückt.«
    Montague ignorierte meine Worte. »Was hast du gesehen?«, fragte er. »Erzähle es mir. Genau!«
    Ich zögerte noch immer, aber plötzlich war es wie damals, in jener ersten Nacht – es war etwas in seinem Blick, das mich einfach zwang zu reden.
    »Ich … weiß es selbst nicht genau«, sagte ich stockend. Meine eigene Stimme kam mir wie die eines Fremden vor. »Es war … nur ein Schatten. Etwas … Großes und … Grünes. Vielleicht ein Fisch.«
    Montagues Augen schienen zu brennen. Ich spürte, wie sich seine Fingernägel noch fester in den Stoff meiner Jacke krallten und warmes Blut über meinen Arm lief. Seltsamerweise fühlte ich keinen Schmerz. »Etwas Großes«, wiederholte er. »Überlege genau, Robert – es kann sein, dass unser Leben davon abhängt. Sah es aus wie ein Fangarm? Wie der Arm eines Oktopus?«
    »Es … könnte sein«, antwortete ich. Montagues Worte erschreckten mich mehr, als ich zugeben wollte. »Aber es war … größer.« Ich schüttelte den Kopf, atmete hörbar ein und machte meinen Arm mit sanfter Gewalt los. »Es war nichts«, sagte ich noch einmal. »Bestimmt, Mister

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