Als gaebe es kein Gestern
verstand ihn, und darauf kam es an.
„Hallo“, antwortete Karen und lächelte warm. Sie war gerade erst gekommen, näherte sich jetzt dem Bett und nahm die ihr entgegengestreckte Hand – es war die Linke – in die ihre. Die Rechte lag ziemlich unbeteiligt auf der Bettdecke. „Wie geht es dir heute Morgen?“ Sie sprach die Worte ganz besonders langsam und deutlich aus, so als spräche sie mit einem kleinen Kind.
„Gut“, antwortete ihr Gegenüber und strahlte immer noch. Karens Hand fühlte sich warm und weich an. Außerdem duftete sie … na ja, wie die Blumen, die sie mitgebracht hatte. Sie zeigte auf den riesigen Strauß in Karens Hand. „Rosen!“ Sie hätte gern mehr gesagt, wusste aber nicht, wie. Rosen , das traf es nicht. Das waren einfach zu wenige Worte für diese Pracht aus apricotfarbenen Blüten, die nicht nur durch ihre herrliche Farbe, sondern auch durch den Wechsel ihrer Farbintensität bestachen und am Rand gänzlich weiß wurden. Sie verlor sich in den Farben und der unglaublichen Schönheit. Spontan entzog sie Karen ihre Hand und berührte die zartweichen Blätter. Neben Karen waren Blumen das Einzige, was ihr etwas bedeutete.
Karens Lächeln verbreiterte sich. „Du hast es dir gemerkt! Das ist toll!“ Sie legte den Blumenstrauß auf der Bettdecke ab, stand auf, ging zum Fenster hinüber und betrachtete die diversen Blumenvasen, die dort standen. Schließlich entschied sie sich für einen Strauß weißer Herbstanemonen. Er war noch nicht wirklich verblüht, zeigte aber erste Anzeichen von Austrocknung. Sie nahm den Strauß aus der Vase, ließ ihn abtropfen und warf ihn dann in den nächstgelegenen Mülleimer.
Im nächsten Moment hatte sie plötzlich das Gefühl, sich umdrehen zu müssen. Und tatsächlich. Die junge Frau in dem Bett hatte ihre Augen von den Rosen losgerissen und starrte jetzt mit traurigem Blick auf den Mülleimer. Karen seufzte. „Du hast schon viel zu viele Blumen hier stehen. Es gibt keine Vasen mehr. Außerdem schimpfen die Krankenschwestern. Das verstehst du doch?“
Der Blick der Patientin wanderte vom Mülleimer zurück zu den herrlichen Rosen auf ihrem Schoß, erhellte sich aber auch jetzt nicht wirklich. Stattdessen hob sie ihre linke Hand und berührte damit nacheinander die Schnittflächen der Rosenstängel.
„Du magst es nicht, dass sie abgeschnitten wurden, nicht wahr?“, fragte Karen leise. „Das versteh ich gut.“ Irgendwie war es ja auch der Anfang vom Ende … Aber dann versuchte sie, den Gedanken abzuschütteln, ging zum Waschbecken hinüber, tauschte das Wasser aus und platzierte nunmehr die Rosen in der entsprechenden Vase. Anschließend stellte sie die Vase auf dem Nachttisch ab. Um die junge Frau abzulenken, fragte sie: „Welche Blumen soll ich dir morgen mitbringen?“
Die Patientin rappelte sich sofort aus ihrer halb liegenden Position in eine sitzende, wandte sich ihrem Nachttischchen zu und kramte umständlich ein Heft daraus hervor. Karen hatte es ihr mitgebracht. Es war eigentlich nichts Besonderes – nur der Katalog eines Versandhauses für Gartenpflanzen –, aber dennoch ihr wertvollster Besitz. Ohne die rechte Hand zu Hilfe zu nehmen, schlug sie es auf und begann darin zu blättern. Als ihre Augen schließlich zu leuchten begannen, wusste Karen, dass sie die richtige Seite gefunden hatte. „Die“, sagte sie und deutete mit dem Finger auf eine rote Gerbera.
„Gerbera“, nickte Karen und nahm auf einem Stuhl Platz, der links neben dem Krankenbett stand.
„Ger-be-ra“, wiederholte ihr Gegenüber ein wenig nuschelnd. Ihr Sprachvermögen hatte sich in den letzten Wochen zwar gebessert, doch ließ ihr aktiver Wortschatz immer noch sehr zu wünschen übrig. Sie hatte praktisch bei null angefangen und musste alles neu erlernen.
Die Tür wurde aufgerissen. „Mittagessen!“, flötete eine Stimme, die keine der beiden Anwesenden leiden konnte. Im nächsten Moment stürmte Frau Barkfrede ins Krankenzimmer. Sie war eine kleine, runde Person mit kurzen blonden Haaren und einem viel zu resoluten Auftreten. „Es gibt leckere Gemüsesuppe!“
Karens Blick verfinsterte sich. Es war nicht leicht, jemandem beim Essen zu helfen, der seinen Mund kaum öffnen konnte, chronisch appetitlos war und seine rechte Hand nicht unter Kontrolle hatte. Und dann auch noch Suppe???
Die Krankenschwester hatte ein abgedecktes Tablett in der Hand, auf dem eine kleine weiße Dose lag. Als sie sich jetzt dem Nachttischchen näherte, stieß sie schon mal
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