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Als gaebe es kein Gestern

Als gaebe es kein Gestern

Titel: Als gaebe es kein Gestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kirsten Winkelmann
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einen tiefen Seufzer aus und nahm dann mit einer verärgerten Geste die Blumen herunter. „Wie oft soll ich Ihnen noch sagen, dass die Blumen auf die Fensterbank gehören?!“ Anstelle der Blumen landete nun das Tablett auf dem Nachttisch. Dabei klapperte es so laut, dass Karen Angst um die Suppe hatte. Trotzdem biss sie sich auf die Zunge. Sie konnte sich ja schlecht jeden Tag mit Ella Barkfrede anlegen.
    „Hier“, sagte Ella und drückte Karen die kleine Dose in die Hand. „Wenn du schon mal hier bist, kannst du ihr ja auch die Tabletten geben, nicht wahr?“
    Karens Blick verfinsterte sich noch mehr. Sie war Hebamme und arbeitete auf der Entbindungsstation. Aber jetzt war sie in ihrer Freizeit hier! Dachte sie jedenfalls … Mit einem tiefen Seufzer öffnete sie die Dose.
    „Und heute wird aufgegessen, ja?“
    Als Ella Barkfrede zur Tür zurückmarschierte, ahmte Karen diesen Satz so gekonnt mit ihrer Mimik nach, dass ihr Gegenüber zu kichern begann. Beide verstummten allerdings, als sich Ella an der Tür noch einmal umdrehte.
    „Stimmt etwas nicht?“, fragte sie spitz.
    „In der Tat“, antwortete Karen und deutete schlagfertig auf die geöffnete Pillendose. „Wenn ich hier schon deine Arbeit erledige, möchte ich auch wissen, was ich tue.“ Sie nahm eine große längliche Tablette aus der Dose. „Diese hier sehe ich zum ersten Mal. Was ist das?“
    „Ich stelle die Medikamente nicht zusammen“, antwortete Frau Barkfrede unfreundlich. „Das macht Ilona. Du kannst sie gerne fragen, wenn du willst.“ Und mit diesen Worten verließ sie endgültig das Krankenzimmer.
    Karen rollte mit den Augen. „Dumme Kuh“, rutschte es ihr heraus.
    „Dumme … Kuh ?“, wiederholte ihr Gegenüber ein wenig undeutlich.
    Karen musste lächeln. „Ich mag sie nicht“, erklärte sie sanft. „Und sie mag mich nicht.“
    „Sie doof. Du lieb.“
    Karens Gesichtsausdruck wurde wieder weich. „Du bist auch lieb, Livia!“ Aber als sie es ausgesprochen hatte, erschrak sie auch schon.
    Ihr Gegenüber reagierte genau so, wie Karen es befürchtet hatte, und schüttelte heftig den Kopf. „Nicht Liva! Nicht Liva!“ Und dabei schlug sie mit der linken Faust auf die Bettdecke. „Ich nicht Liva!“
    „Schon gut, schon gut“, versuchte Karen sie zu beruhigen. „Es tut mir leid, dass ich dich so genannt habe! Wirklich!“ Und dann packte sie ihr Gegenüber am Handgelenk und versuchte, ihre heftigen Bewegungen zu unterbinden. Es war nicht gut, wenn sie sich so aufregte. Schließlich war sie erst vorgestern ein weiteres Mal operiert worden. Am Anfang, als es um Leben und Tod gegangen war, hatte man die Knochenbrüche und Gesichtsverletzungen links liegen gelassen. Jetzt musste all das allmählich aufgearbeitet werden.
    Ihre Bewegungen ließen nach. Sie hatte ohnehin nicht viel Kraft. Allerdings fing sie jetzt an zu weinen. „Nicht Liva“, jammerte sie kläglich. Ihre Tränen benetzten den Verband, der immer noch den größten Teil ihres Gesichtes bedeckte.
    „Nein, nicht Liva“, bestätigte Karen. „Wir können einen anderen Namen für dich aussuchen. Welchen möchtest du?“
    Ihr Gegenüber schniefte und wischte sich mit der linken Hand die Tränen fort. Dann sagte sie: „Karen.“
    Karen seufzte tief. „Du kannst aber nicht Karen heißen“, erklärte sie unendlich sanft, „weil ich schon Karen heiße.“
    „Beide Karen?“
    Karen schüttelte den Kopf und dachte einen Moment lang nach. „Wie wär’s mit … Lara?“ Das war ihrem wirklichen Namen zumindest ähnlich …
    Aber Lara-Livia bekam schon wieder diesen abwehrenden Gesichtsausdruck. Gleich würde sie sich wieder aufregen.
    „Also gut“, beeilte sich Karen zu sagen. „Dann heißt du eben Karen. Ich teile meinen Namen gern mit dir.“
    Ihr Gegenüber begann zu strahlen. „Karen?“
    Karen sah nicht sehr glücklich aus. Aber sie nickte und versuchte tapfer, ihre Bedenken zur Seite zu schieben. Es ging nur um einen Namen … eine Nebensächlichkeit …
    Oder ? Seit ihrem Autounfall war Livia wie ein Kind, das sich selbst erst finden oder zumindest wieder finden musste. Wer konnte schon wissen, welche Auswirkungen es haben würde, wenn sie in dieser Phase die Identität einer anderen annahm? „Der Unfall …“, hörte Karen sich sagen. Sie schauderte und sah noch einmal die Stelle vor sich, an der Livias Wagen von der Straße abgekommen war. Es war ein wenig außerhalb passiert, in einer bergigen Region, am Ende einer überaus lang gezogenen Linkskurve.

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