Racheherz - Roman
1
Ryan Perry wusste nicht, dass etwas in ihm zerbrochen war.
Mit seinen vierunddreißig wirkte er körperlich fitter als mit vierundzwanzig.
Der Fitnessraum in seinem Haus war gut bestückt. Dreimal pro Woche kam ein Personal Trainer zu ihm nach Hause.
Als er an jenem Mittwochvormittag im September die Vorhänge in seinem Schlafzimmer aufzog, den wolkenlosen Himmel, dessen Widerschein das Meer blau färbte, wie eine Glatze schimmern sah, da waren ihm die Brandung und der Sand wichtiger als sein Frühstück.
Er ging online, konsultierte eine Surfcast-Seite und rief Samantha an.
Sie musste auf dem Display ihres Telefons gesehen haben, wer der Anrufer war, denn sie sagte: »Guten Morgen, Winky.«
Gelegentlich nannte sie ihn Winky, »Blinzler«, denn an dem Nachmittag vor dreizehn Monaten, als sie einander das erste Mal begegnet waren, hatte er gerade an einer hartnäckigen Myokymie gelitten, dem unkontrollierbaren Zucken eines Augenlids.
Manchmal, wenn Ryan derart besessen davon war, ein Softwareprogramm zu schreiben, dass er sechsunddreißig Stunden am Computer saß, ohne zwischendurch zu schlafen, zwang ihn das plötzlich einsetzende Zucken im rechten
Lid, die Tastatur zu verlassen, und dann schien es, als blinzle er im Morsealphabet ein hektisches Notsignal.
In diesem myokymischen Moment war Samantha in sein Büro gekommen, um ihn für einen Artikel zu interviewen, den sie im Auftrag von Vanity Fair schreiben sollte. Im ersten Moment hatte sie geglaubt, er flirte mit ihr - und zwar reichlich unbeholfen.
Während dieser ersten Begegnung hätte sich Ryan schon gern mit ihr verabredet, aber er nahm an ihr eine bestimmte Gewissenhaftigkeit wahr, die dazu führen würde, dass sie ihn abwies, solange sie noch über ihn schrieb. Er rief sie also erst an, als er mit Sicherheit davon ausgehen konnte, dass sie den Artikel abgeliefert hatte.
»Was ist, wenn die Vanity Fair erscheint und ich Sie in der Luft zerrissen habe?«, hatte sie gefragt.
»Das haben Sie nicht.«
»Woher wollen Sie das wissen?«
»Ich habe es nicht verdient, in der Luft zerrissen zu werden, und Sie sind von Natur aus fair.«
»Sie kennen mich doch gar nicht gut genug, um das mit Sicherheit sagen zu können.«
»Ihr Interviewstil hat mir gezeigt, dass Sie klug und klarsichtig sind, frei von politischen Dogmen und Neid. Wenn ich mich bei Ihnen nicht sicher fühlen könnte, dann könnte ich mich nirgendwo sicher fühlen. Außer allein in einem abgeschlossenen Zimmer.«
Er hatte es nicht darauf angelegt, ihr zu schmeicheln. Er hatte lediglich offen seine Meinung kundgetan.
Da sie ein ausgeprägtes Gespür für jede Form von Täuschung besaß, erkannte Samantha seine Aufrichtigkeit.
Unter den Eigenschaften, die eine kluge Frau an einem
Mann schätzt, können es mit der Wahrheitsliebe nur Wärme, Mut und Humor aufnehmen. Sie hatte seine Einladung zum Abendessen angenommen und die darauffolgenden Monate waren die glücklichsten seines Lebens gewesen.
Jetzt, an diesem Mittwochmorgen, sagte er: »Zweimeterwellen, glasklar und gigantisch, und dazu Sonnenschein, der einen bis ins Mark wärmt.«
»Ich muss einen Abgabetermin einhalten.«
»Aus deinem Mund klingt das, als sei dieser Termin eine Frage von Leben und Tod.«
»Hat dich mal wieder ein Anfall von manischer Schlaflosigkeit gepackt?«
»Ich habe geschlafen wie ein satter Säugling. Und das bezieht sich nicht auf nasse Windeln.«
»Wenn man dir den Schlaf entzieht, wirst du zum tückischen Surfer.«
»Kann schon sein, dass ich dann radikal bin, aber tückisch bin ich nie.«
»Vollkommen wahnsinnig, wie mit dem Hai.«
»Das mal wieder. Dabei war da doch nichts.«
»Nur ein großer weißer Hai.«
»Tja, der Mistkerl hat einen gewaltigen Happen aus meinem Board rausgebissen.«
»Und du? Du warst wohl entschlossen, dir den Happen zurückzuholen, was?«
»Ich hatte einen Wipe-out«, sagte Ryan. »Ich bin unter der Welle, im Dämmerlicht. Ich schnappe nach Luft und meine Hand schließt sich um das, was ich für die Finne meines Bretts halte.«
Was Ryan in Wirklichkeit zu fassen bekommen hatte, war die Rückenflosse des Hais gewesen.
»Was für ein Selbstmörder reitet einen Hai?«, fragte Samantha ironisch.
»Ich bin ihn nicht geritten. Er hat einen Ritt mit mir unternommen.«
»Er ist an die Oberfläche gekommen und hat versucht, dich abzuschütteln, aber du bist auf ihm drauf geblieben, als er wieder abgetaucht ist.«
»Ich hatte Angst loszulassen. Und überhaupt hat das Ganze
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