Als gaebe es kein Gestern
hören. Arvin verlagerte sein Gewicht unruhig von einem Bein aufs andere, konnte sich aber nicht entschließen, zum Bett hinüberzugehen. Stattdessen wanderte sein Blick unentschlossen von dem Blumenmeer auf der Fensterbank zu seinem eigenen Strauß.
„Kannst … du mich hören?“, brachte er schließlich heraus.
Livia bewegte sich ein wenig, antwortete aber nicht.
„Ich bin’s … Arvin“, setzte er hinzu. Aber auch jetzt reagierte sie nicht wirklich auf ihn. Arvins Unbehagen wuchs. Er sah auf seine Uhr. „Wie lange dauert es denn, einen Arzt zu holen?“, flüsterte er ärgerlich. Eine Minute verging, dann noch eine. Es kam ihm vor wie zwei Stunden.
Als er Schritte auf dem Flur vernahm, wandte er seinen Kopf hoffnungsvoll zur Tür. Aber die Geräusche verlagerten sich nur in die andere Richtung und verschwanden allmählich wieder. „Kein Wunder, dass die Leute in diesem Krankenhaus verrecken.“ Es sollte schwarzer Humor sein, brachte ihn aber nicht einmal zum Schmunzeln.
Tick … tack … tick. Er kannte die Sekunden nicht wieder. War dies die gleiche Zeiteinheit, die ihm sonst durch die Finger rann? Allmählich wurde er wütend. Und diese Wut richtete sich gegen seine Schwester. „Du hast mir versprochen, dass ich sie nicht allein besuchen muss“, flüsterte er ärgerlich. „Hoch und heilig versprochen.“
Tack … tick … tack. „Oh Mann!“, jammerte er kläglich. Aber es vergingen noch ein paar weitere Minuten, bis sich endlich die Tür öffnete und Karen zurückkehrte.
„Bist du da irgendwie festgewachsen?“, kommentierte sie die völlig unveränderte Szene.
„Wenn du auf die Uhr gesehen hättest“, entgegnete Arvin, „wüsstest du, warum es praktisch vorprogrammiert war, dass ich Wurzeln schlage.“
„Genau da?“, fragte Karen spöttisch, wandte sich aber schon im nächsten Moment dem Mediziner im weißen Kittel zu, der ihr ins Zimmer gefolgt war. Er war noch jung und sah nicht sehr kompetent aus. Dass er klein und schmächtig war, konnte Arvin noch akzeptieren, aber musste er sich zu allem Überfluss auch noch einen Vollbart stehen lassen, der nur stellenweise wuchs?
„Ich habe schon seit geraumer Zeit den Eindruck, dass es ihr schlechter geht.“ Karens Stimme klang wirklich besorgt. „Aber Dr. Kopp nimmt mich überhaupt nicht ernst.“
Der junge Mann fühlte sich sichtbar unbehaglich. Er sah mehrfach zur Tür hinüber und spielte unruhig mit einem silbernen Kugelschreiber. „Und genau das ist der Grund, warum ich gar nicht hier sein sollte, Frau Scholl“, begann er. „Wenn Frau Barkfrede mich hier sieht, weiß es das ganze Krankenhaus. Und wenn Dr. Kopp das erfährt –“
„Trotzdem müssen Sie mir helfen“, beharrte Karen. „Der Patientin zuliebe!“ Sie deutete auf Livia. „Sehen Sie doch mal.“
Ein wenig widerwillig näherte sich der Mann dem Krankenbett, fühlte erst Livias Stirn und dann ihren Puls. Anschließend sprach er sie an. „Können Sie mich hören?“ Als er keine Antwort bekam, holte er eine kleine Lampe aus der Brusttasche hervor, hob eines ihrer Lider an und leuchtete ins Auge. Das Gleiche machte er mit dem anderen. „Holen Sie Dr. Kopp!“, empfahl er schließlich. „Bestimmt wird er seine Meinung ändern.“
„Und wenn nicht?“, entfuhr es Karen.
„Es sind noch einige Untersuchungen notwendig“, wiegelte der junge Arzt ab. „Ich kann doch keine Blutuntersuchung anordnen, ohne dass der zuständige Kollege etwas davon erfährt!“
„Wenn meine Frau stirbt“, meldete sich nun Arvin zu Wort, „werde ich nicht nur Dr. Kopp, sondern auch Sie zur Rechenschaft ziehen.“
Dieser eine Satz und die natürliche Autorität, die darin mitschwang, genügte.
Der junge Arzt seufzte tief. „Ich werde selbst mit Dr. Kopp reden.“ Und mit diesen Worten eilte er auf den Flur hinaus.
Als er gegangen war, herrschte eine ganze Zeit lang Stille in dem kleinen Raum. Dann sagte Karen nur einen einzigen Satz: „Scheint, als wärst du dir doch nicht so sicher …“
Kapitel 4
„Eins, zwei, drei, vier, fünf“, freute sich Vanessa und setzte die blaue Spielfigur auf dem „Mensch-ärgere-dich-nicht“-Brett zügig vorwärts.
Anschließend würfelte Karen. „Sagst du mir, wie oft ich setzen muss?“, fragte sie an Livias Adresse gerichtet. Sie saß gemeinsam mit ihrer Tochter und ihrer Schwägerin in einem der Aufenthaltsräume des Krankenhauses. „Eins … zwei … drei“, antwortete Livia, indem sie mit dem Finger die einzelnen Punkte auf der
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