Als ich lernte zu fliegen
seinem üblichen Weg ab. Er hat sich so an die leise Bewegung der Vorhänge Abend für Abend gewöhnt, dass er sich fragt, ob er nicht selbst in Panik ausbrechen würde, wenn einmal alles ruhig bliebe, als ob Yasmins Symptome womöglich ansteckend sein könnten. Nach all den Jahren, die er sich ihren Forderungen nach Beständigkeit und Routine, die einen rasend machen können, ihren Gewohnheiten und Neurosen untergeordnet hat, würde es ihn kaum überraschen, wenn er manches davon unbewusst übernähme. Mit wachsender Nervosität klopft er seine Taschen ab, bis er sein Handy endlich findet. Er ist erleichtert, als ihm das Display nur seine andere Schwester anzeigt, und meldet sich hastig, denn er weiß, dass er von der wartenden Yasmin beobachtet wird. »Hi Lila, was gibt’s?«
»Mir geht’s gut, danke, dass du nicht fragst, du Arsch. Ich hab’s doch schon immer gesagt: Wenn du den ganzen Tag mit Yasmin eingesperrt verbringst, gehen deine guten Manieren drauf.«
»Ich bin nicht den ganzen Tag mit Yasmin eingesperrt, nur abends. Tagsüber bin ich bei der Arbeit eingesperrt«, erwidert Asif. Er fühlt sich ertappt – wie nebenbei hat Lila in ein paar raschen Worten zusammengefasst, worüber er selbst seit einer Weile nachgrübelt.
»Bei den Anonymen Aktenwälzern?«, fragt Lila kichernd, zufrieden mit ihrem kleinen Witz. »Das ist doch dasselbe in Grün. Ich ruf nur zurück, weil du gestern Nachmittag versucht hast, mich zu erreichen.«
»Ah gut, du hast meine Nachricht gekriegt. Ich hatte das Gefühl, der Typ, der ans Telefon gegangen ist, stand ziemlich neben sich.«
»Mikey? Dem gehört der Plattenladen. Der ist immer so, ich glaub, der hat als Teenager zu viel gekifft oder so. Tut er immer noch. Aber er hat einen tollen Arsch, ich überleg schon, ob ich mit ihm schlafe, wenn ich wieder Single bin.«
Asif erschrickt, wie schnell ihm jedes Gespräch mit Lila aus der Hand gleitet. Er geht auf die Arschqualität des unbekannten Mikey nicht weiter ein und fragt: »W ie ist das jetzt – du kommst doch heute Abend, so gegen acht? Ich bestell uns ein Curry.«
»W as? Als ob, Asif! Den Freitagabend zu Hause mit dir und der verdammten Miss Spock verbringen? Ganz bestimmt nicht.« Lila beginnt zu lachen und merkt dann, dass ihr Gegacker theatralisch grausam klingt, richtig nach Comic-Bösewicht. Schlagartig verstummt sie. »Egal. Ich geh heut Abend eh mit Wesley aus.«
»Das ist ja schön. Wo trefft ihr euch denn?«, fragt Asif betont höflich und beobachtet, wie der Vorhang etwas stärker schwankt.
»In der Central Bar«, gibt Lila widerwillig zu. Die Bar liegt nur zehn Fußminuten vom Haus entfernt, eine Tatsache, die unausgesprochen zwischen den beiden in der Luft hängt.
»Dann komm doch trotzdem um acht vorbei«, sagt Asif schließlich, um einen eher sachlichen als flehenden Ton bemüht. Auch in der Firma verirrt er sich oft zwischen diesen beiden Tonlagen, wenn er die Assistentinnen um ganz gewöhnliche Arbeiten bittet. »Bring Wes ruhig mit, wenn du willst. Oder lass ihn eine halbe Stunde warten, wenn wir dir peinlich sind. Yasmin hat etwas Wichtiges mit uns zu besprechen; worum es geht, wollte sie mir nicht verraten. Hat vermutlich mit der Schule zu tun.«
»W arum dreht sich immer alles um Yasmin?«, knurrt Lila. Asif antwortet nicht, denn Lila kennt die Gründe ja. »Okay, ich schau vorbei, aber wirklich nur für eine halbe Stunde. Und bestell mir ein Gemüse-Samosa, ja?« Asif lächelt, er weiß genauso gut wie Lila, dass sie eigentlich gar kein Samosa will, aber wenn sie ihn darum bittet, ist das ihre Art zu sagen, ja, ich komme, ein in Teig gewickeltes Versprechen, gefüllt mit dampfendem, aromatischem Gemüse. Sein Lächeln erlahmt etwas, als er sieht, dass der Vorhang im Fenster jetzt reglos herunterhängt; hoffentlich sitzt Yasmin nicht in der Ecke und schmollt, weil er so lange telefoniert.
Als er das Haus betritt, ist es exakt vierzehn Minuten nach sechs, also musste Yasmin heute nur vierzehn Minuten am Fenster stehen. Er versucht sich einzureden, dass er sich ihretwegen keine Sorgen machen muss; wahrscheinlich ist sie den ganzen Abend die Liebenswürdigkeit in Person und benimmt sich tadellos, wenn Lila und Wes vorbeikommen. Als ob, Asif, verspottet er sich selbst mit dem kindischen Wortspiel, das die schlaue Lila, kaum dass sie sprechen konnte, erfasst hatte und dessen sie nie überdrüssig wurde. Es gibt so viele schöne traditionelle Namen, warum mussten ihn seine Eltern ausgerechnet wie
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